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Gerhoch von Reichersberg

(lat.: Gerhohus Reicherspergensis)
Geb. 1092/93 in Polling (Oberbayern), gest. 27.6.1169 in Reichersberg im Innviertel (OÖ).
Herausragender Kirchenreformschriftsteller und antidialektischer Theologe.

Gerhoch erhielt seine Ausbildung in den Stiftsschulen von Polling, Moosburg, Freising und Hildesheim, war Scholaster in Augsburg, trat in den Kanonikerorden der Augustiner-Chorherren ein, wirkte zuerst in Rottenbuch, dann in Regensburg und wurde 1132 vom Erzbischof Konrad I. (um 1075-1147) als Propst des Salzburger Eigenstifts Reichersberg am Inn eingesetzt. Er kämpfte zeit seines Lebens leidenschaftlich für extreme ekklesiologische und dogmatische Positionen und stieß dementsprechend auf heftigen Widerstand. Vor allem ging es ihm um die Armut des Klerus, die Sakramentenlehre und die Christologie.

Schon der erste Angriff gegen die weltliche Macht und Besitzanhäufung der Bischöfe in De aedificio Dei (Von Gottes Gebäude,1128) brachte ihm einen kirchlichen Prozess ein. Seine Verteidigung im Dialogus inter clericum saecularem et regularem (Zwiegespräch eines Säkularkanonikers und eines Regularkanonikers, 1131) fand aber Gnade vor Papst und Erzbischof. 1141/42 erneuerte er seine Klagen über den Verfall der Kirchenzucht (besonders im Libellus de ordine donorum sancti Spiritus / Büchlein von der Reihe der Gaben des Heiligen Geistes,1142) und nahm bis 1152 im päpstlichen Auftrag an Visitationen in Böhmen und Süddeutschland teil. 1152 überreichte er Papst Eugen III. seine umfassendste Reformschrift, die er dann in seinen gewaltigen Psalmenkommentar einfügte, an dem er von 1144 bis zu seinem Lebensende arbeitete (neun Codices, davon sieben in Reichersberg erhalten).
Gegen seine Hauptkontrahenten Folmar von Triefenstein und Bischof Eberhard von Bamberg richtete Gerhoch die Schriften Contra duas haereses (Gegen zwei Häresien,1147), De novitatibus huius temporis (Von den Neuerungen dieser Zeit, 1156),  De gloria et honore Filii hominis (Von Ruhm und Ehre des Menschensohnes,1163) und Utrum Christus homo sit Filius Dei et Deus natura an gratia (Ob der Mensch Christus Sohn Gottes und Gott von Natur oder durch Gnade ist). Diese Schrift wurde aber wohl nicht veröffentlicht, da Papst Alexander III. dem Autor 1164 Schweigen auferlegte. Trotz schwerer Zweifel hatte sich Gerhoch zu Alexander in der Kirchenspaltung seit 1159 bekannt, wodurch auch Reichersberg 1166 der Reichsacht verfiel und der Propst des Stiftes kurzfristig ins Exil gezwungen wurde. An die Erneuerung der Kirche von Rom aus glaubte Gerhoch nun nicht mehr. Seine letzten Werke De investigatione Antichristi (Vom Aufspüren des Antichrist,um 1160/62) und De quarta vigilia noctis (Von der vierten Nachtwache)kurz vor seinem Tode sind von der Erwartung des Weltendes geprägt.

Gerhoch suchte in seinem riesigen Œuvre seine stets radikalen und daher in der Kirche kaum mehrheitsfähigen Positionen in der Form abzuschwächen, aber inhaltlich aufrechtzuerhalten. Er verlangte auch von den Weltklerikern totale Besitzlosigkeit, hielt alle Zuwiderhandelnden für Häretiker, daher für exkommuniziert und stellte so die Gültigkeit der meisten gespendeten Sakramente in Frage. Im Gegensatz zum einzelnen Kleriker sollte die Kirche als ganze reich sein, um ihre karitative Aufgabe erfüllen zu können. Diese von Gott gegebene Aufgabe setzte notwendig den ebenfalls gottgegebenen Unterschied von Arm und Reich voraus. In der seit Anfang der Kirchengeschichte heftigst umkämpften Lehre von der Gottheit des Menschen Christus vertrat Gerhoch die supernaturalis naturarum unio, die übernatürliche Vereinigung der Naturen, der menschlichen und der göttlichen, im Gegensatz zur Frühscholastik und ähnlich wie später Luther. Von der Frühscholastik unterschied sich Gerhoch auch methodisch als streng monastischer, symbolistischer Theologe im engen Anschluss an Rupert von Deutz (um 1070-1129/30). Auf der typologischen Sinnebene (Christus als der zweite Adam etc.) und der Zahlenmystik (sieben Gaben des Heiligen Geistes, sieben Stationen des Lebens Jesu, sieben Weltalter etc.) beruhen auch die geschichtstheologischen Spekulationen. Je älter Gerhoch wird, umso mehr neigt er der Ansicht zu, die Widersacher Christi, die "Antichristi" (dem 1. Johannesbrief2, 18 gemäß im Plural), seien in den Drangsalen der Kirche, zuletzt der Habsucht, schon erschienen und daher das Jüngste Gericht unmittelbar zu erwarten.

Fritz Peter Knapp

 

Patrologia Latina. Hg. von J. P. Migne, Bd. 193, Sp. 489-1814; Bd. 194, Sp. 9-1480 [(Unvollständige) Ausgabe der Werke; jüngere Teilausgaben ausgewählter Werke].

Classen, Peter: Gerhoch von Reichersberg. Eine Biographie. Wiesbaden 1960. - Frioli, Donatella: Per una storia dello Scriptorium di Reichersberg: Il prevosto Gerhoch e i suoi ‚segretari‘. In: Scrittura e civiltà 22 (Florenz 1999), 177-212. - Godman, Peter: The Silent Masters. Latin Literature and Its Censors in the Middle Ages. Princeton (N.Y.) 2000, 107-109. - Haacke, Hraban: Gerhoch von Reichersberg. In: Verfasserlexikon II (1980), Sp. 1245-1259. - Knapp, Fritz Peter: Die Literatur des Früh- und Hochmittelalters in den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen und Trient bis zum Jahre 1272. Graz 1994, 65-72 u. 606. - Meuthen, Erich: Kirche und Kirchengeschichte bei Gerhoch von Reichersberg. Leiden u. a. 1959.