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Anna Mitgutsch

Foto: Peter von Felbert; © Luchterhand Verlag

Geb. 2.10.1948 in Linz.
Die Romanautorin und Essayistin zählt zu den bekanntesten zeitgenössischen SchriftstellerInnen in Oberösterreich, lebt in Linz und Boston und hat bisher neben zahlreichen Essays acht Romane veröffentlicht.

Nach dem Studium der Anglistik und Germanistik in Salzburg war Mitgutsch bis 1978 Assistentin am Institut für Amerikanistik in Innsbruck, dann Lehrbeauftragte in England, Seoul und in den USA. Die Erfahrungen dieser Auslandsaufenthalte sind später in ihre Romane eingeflossen, die alle als Psychogramme der Entfremdung gelesen werden können. 1985 kehrte sie nach Linz zurück und legte ihren ersten Roman Die Züchtigung vor, der das lebenslängliche Leiden an der Beziehung zur gewalttätigen Mutter schildert. Im Jahr darauf folgte mit dem Roman Das andere Gesicht die Geschichte zweier sehr unterschiedlicher Frauen, die sich in denselben Mann verlieben. Der Roman Ausgrenzung (1989) setzt mit den beklemmenden Erfahrungen der Mutter eines übersensiblen und sozial auffälligen Sohnes das Thema der problematischen Mutter-Kind-Beziehung fort.

Mitgutschs Erzählen steht im Zeichen des Erinnerns als Teil der Suche nach der eigenen Identität. "Erinnerung mag wohl ein wichtiges, wenn nicht das wichtigste Element bei der Produktion von erzählenden Texten sein", heißt es im programmatischen Essay Erinnern und Erfinden (8). Ganz besonders gilt das für die großen Erinnerungsromane seit den frühen 1990er Jahren. In fremden Städten (1992) erzählt vom radikalen Aufbruch einer Frau, die Mann und Kinder verlässt, um in ihre amerikanische Heimat zurückzukehren, weil der Entwurzelung nie eine Beheimatung am neuen Ort und im neuen Leben folgte. In Abschied von Jerusalem (1995) gerät die Erzählerin durch eine Affäre mit einem jungen Araber in Konflikt mit ihrer lebenslangen Suche nach den eigenen jüdischen Wurzeln. Im Roman Haus der Kindheit (2000) wählt Mitgutsch erstmals einen männlichen Protagonisten, der als Sohn einer Emigrantin vergeblich versucht, mit der Rückkehr in die oberösterreichische Heimat den verlorenen Lebenstraum der Mutter wiederzufinden. Familienfest (2003) ist in den USA angesiedelt und verfolgt über mehrere Generationen die Geschichten und Mythen einer jüdischen Einwandererfamilie, deren Wurzeln und Zusammenhalt immer mehr zu schwinden drohen. ZweiLeben und ein Tag (2007) ist das mit der Biografie Herman Melvilles verschränkte, retrospektiv aufgezeichnete Protokoll einer Beziehungsgeschichte, die am akademischenWanderleben ebenso gescheitert ist wie an der Verantwortung für den gemeinsamen Sohn, der als psychischer Grenzgänger schwer Orientierung zu finden vermag.
Der Bewegung in den Lebensgeschichten entspricht häufig einer Bewegung im Raum: ein missglückter Aufbruch, eine Reise, eine versuchte Rückkehr, der Aufbruch der Enkelin als Hoffnungsgeste in Familienfest und die Bilanz eines ruhelosen Reiselebens. Schicht um Schicht deckt Mitgutsch im reflektierten Erleben ihrer Protagonistinnen und Protagonisten verwickelte und in der NS-Vergangenheit festgezurrte Lebensfäden auf; ebenso die kleinen Lebenslügen, die einen gerechten Blick auf das eigene Dasein mit seinen Brüchen und Wendungen so schwer oder unmöglich machen. Daraus entsteht das Lebensunglück, selbst gemacht und zugleich vom Schicksal - dem allgemein menschlichen wie dem konkret historischen - zugeteilt, angereichert durch die Schwierigkeiten der Verständigung der Geschlechter miteinander. Dass Mitgutsch sich nie auf einen der Motivstränge festlegt, vielmehr ihr Zusammenwirken und ihre gegenseitigen Bedingtheiten immer im Auge behält, macht ihre Bücher dicht und differenziert. Mit den geografischen wie kulturellen Transgressionen, die das Einzelleben oder die Familiengeschichte prägen, sind ihre Erzählwelten auch ein diskursiver Beitrag zu den Folgekosten von Migrationsbewegungen - auch für die spätere(n) Generation(en).

Daneben setzt Mitgutsch sich immer wieder essayistisch mit Literatur auseinander (u. a. mit Sylvia Plath, Marlen Haushofer oder Paul Celan), sie ist als Lyrik-Übersetzerin (u. a. Philip Larkin) und als Rezensentin tätig. 2005 war sie Mitherausgeberin der umstrittenen Anthologie zur österreichischen Nachkriegsliteratur Landvermessung (Austrokoffer). Für ihr Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. erhielt sie 1985 den Brüder-Grimm-Preis der Stadt Hanau, 1986 den Kulturpreis des Landes Oberösterreich für Literatur, 1992 den Anton-Wildgans-Preis, 2000 den Österreichischen Würdigungspreis für Literatur, 2001 den Solothurner Literaturpreis und 2007 den Heinrich-Gleißner-Preis.

Evelyne Polt-Heinzl

 

Die Züchtigung. Roman. Düsseldorf 1985. - Ausgrenzung. Roman Frankfurt/Main 1989. - In fremden Städten. Roman. Hamburg 1992. - Abschied von Jerusalem. Roman. Reinbek bei Hamburg 1995. - Erinnern und Erfinden. Grazer Poetik-Vorlesung. Graz 1999. - Haus der Kindheit. Roman. München 2000. - Familienfest. Roman. München 2003. - Zwei Leben und ein Tag. Roman. München 2007. - Wenn du wiederkommst. Roman. München 2010. - Die Welt, die Rätsel bleibt. München 2013. - Die Grenzen der Sprache. St. Pölten 2013. - Die Annäherung. Roman. München 2016.

Bartsch, Kurt; Höfler, Günther A. (Hg.): Anna Mitgutsch. Graz 2009. - Kucher, Primus-Heinz: Schnittpunkte, Grenzpunkte, Wahnpunkte. Identitätsrecherche und Identitätsreflexion in den Romanen von Anna Mitgutsch seit Abschied von Jerusalem (1995). In: literatur für leser 30 (2007), H. 1, 1-11. - Neissl, Julia: "Manchmal ist das Thema mit einem Roman noch lange nicht erschöpft". Autobiographische Erfahrungen und kollektive Erinnerungsspuren in Texten von Anna Mitgutsch. In: Hildegard Kernmayer und Petra Ganglbauer (Hg.): Schreibweisen Poetologien. Die Postmoderne in der österreichischen Literatur von Frauen. Wien 2003, 379-396. -  Shafi, Monika: "Enteignung" und "Behaustheit". Zu Anna Mitgutschs Roman Haus der Kindheit. In: Modern Austrian Literature 36 (2003), H.1/2, 33-51. - Stockinger, Heide; Teuchtmann, Kristin (Hg.): Anna Mitgutsch. Linz 2004 (= Die Rampe 2004, Porträt). - Teuchtmann, Kristin: Über die Faszination des Unsagbaren. Anna Mitgutsch - eine Monographie. Frankfurt/Main 2003.