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Linzer Petrinum

© Ansichtskartensammlung Stift St. Florian

Traditionsreiches Gymnasium am Fuße des Pöstlingberges in Linz-Urfahr, gegründet 1897.

Im Jahr 1997 feierte das damals noch "Kollegium Petrinum" benannte Institut (Humanistisches Gymnasium und Internat) in Urfahr sein 100-jähriges Bestandsjubiläum. Im  Jahresbericht der nun "Bischöfliches Gymnasium Petrinum" genannten und im Sinne der staatlich verlangten Koedukation auch für Mädchen geöffneten Schule über das Schuljahr 2003/2004 findet sich ein Artikel Begegnungen mit Petriner Literaten von Franz Asanger, dem Direktor der Anstalt. Die "Begegneten" sind (in dieser Reihenfolge) Alois BrandstetterRichard Billinger, Peter Paul Wiplinger (geb. 1939), Franz Rieger, Gottfried Glechner (1916-2004), Josef Grafeneder (geb. 1934) sowie "Die junge Generation": Rudolf Habringer und Wolfgang Wenger (geb. 1962). Im Vorspann der eigentlichen Begegnungen ist davon die Rede, dass die Internatserziehung, namentlich jene in kirchlich geführten Schulen ein wichtiges Thema, sozusagen ein Kern- und Leitmotiv der Literatur geworden ist. Und gegenläufig und parallel zur Schließung vieler alter Konvikte und Anstalten ist in der Literatur und in der Literaturwissenschaft und auch in der Soziologie das Interesse an jenen Häusern und ihren Hausordnungen gewachsen und gestiegen.

Hier wird auf Roland Girtlers Buch über die traditionsreiche Schule Adalbert Stifters in der Benediktinerabtei Kremsmünster und vor allem auf die Dissertation von Klaus Johann sowie eine reiche Sekundärliteratur zu einschlägigen Themen, auf Diplomarbeiten und Dissertationen hingewiesen. Schließlich gibt oder gab es in allen Bundesländern dem Petrinum vergleichbare Institute und dementsprechendes literarisches Echo; in Linz selbst, am Freinberg, außerdem ein ähnliches, von Jesuiten geführtes Institut, das Aloisianum. Im zweisprachigen Kärnten ist es Tanzenberg mit seinen "Alttanzenbergern", dem Slowenen Florjan Lipuš (geb. 1937; Der Zögling Tjaž, dt. 1981), Engelbert Obernosterer (geb. 1936; Nach Tanzenberg, 2007) und Peter Handke (geb. 1942). Im Wunschlosen Unglück (1972) Handkes gibt es eine berührende und für die Internatsliteratur motivisch vielsagende Stelle, wo von einem aus dem ländlichen Milieu kommenden Zögling die Rede ist, der vor Heimweh aus dem Internat flieht und die ganze Nacht nach Unterkärnten heimwärts geht, im Morgengrauen im elterlichen Hof eintrifft und gleich beginnt, den Hof auszukehren. Für Niederösterreich hat Josef Haslinger (geb. 1955) mit seinen frühen Erzählungen Der Konviktskaktus (1980) das entsprechende Buch geschrieben. 1997 hat der in Linz wirkende Theologe und Kirchenmusiker Peter Paul Kaspar (geb. 1942) ein gesellschaftskritisches Buch über Hollabrunn, Niederösterreichs Petrinum gewissermaßen, mit dem aussagekräftigen Titel Knabenseminar. Ein Nachruf verfasst. Für Salzburg mit dem sogenannten Borromäum kann an Das Pfaffenaquarium (1984) von Bruno Wieser oder auch an den Krimiautor Wolf Haas (geb. 1960; Silentium, 1999) erinnert werden. Und auch für das Paulinum in Schwaz, das "apostolische" Pendant zum oberösterreichischen Petrinum, würde man in der Tiroler Literaturgeschichte sicher fündig. Für Südtirol sei an Norbert C. Kaser (1947-1978), der in Bruneck Novize bei den Kapuzinern war, später aber aus dem Orden und der Kirche ausgetreten ist (Eingeklemmt, 1979), aber auch an Joseph Zoderer (geb. 1935; Das Glück beim Händewaschen, 1976) erinnert.

Sieht man nun auf die Erzählhaltung oder den ‚point of view‘ in diesen Büchern, so ließen sich bei allen Unterschieden unschwer narrative Konstanten ausmachen. Es geht in kaum einem Buch affirmativ oder das idealistische Konzept der alten Internatserziehung (etwa auch was das Thema ‚Nummer eins‘, die Sexualität, betrifft) lobend, sondern durchweg kritisch zu. Es ist so gesehen ja auch bezeichnend, dass die meisten der über ihre alte Schule Schreibenden, an dieser Schule nicht die Matura erreicht und abgelegt, sondern bereits in einer der unteren Klassen "relegiert" wurden - oder wie es früher hieß, das "Consilium abeundi" bekommen, das heißt, erlitten haben. Oft waren es aber auch die Zeitläufte, etwa die Einstellung der katholischen Privatschulen durch die Nationalsozialisten, die den regulären Abschluss verhindert oder hinausgezögert haben. Dies ist etwa der Fall bei Franz Rieger und Gottfried Glechner.
Die Kritik an den einschlägigen Instituten muss aber nun keineswegs immer so rabiat daherkommen wie im erwähnten Pfaffenaquarium. Sie kann, was sicher auch mit der literarischen Qualität der einschlägigen Werke zu tun hat, mitunter sehr subtil und differenziert ausfallen. Das aber wiederum kann wie im Falle Thomas Bernhards, der in einem seiner "autobiografischen" Bücher (Die Ursache, 1975) seine Zeit in einem von Geistlichen geführten Schülerheim "beschrieben" hat, sogar zu Inkriminierung und zu Prozessen mit ehemaligen Präfekten führen. Bernhards Maliziosität gipfelt bekanntlich in der stereotyp wiederholten Gleichsetzung von "katholisch" und "nationalsozialistisch".

Eines der merkwürdigsten Bücher über ein klerusgeführtes Internat hat sicher Franz Rieger mit Internat in L. Darstellung eines empfindsamen Charakters im Jahr 1986 geschrieben. Es ist mit der "herkömmlichen" Internats- und Konviktsliteratur in vielem unvergleichbar, was sein ästhetisches, aber auch ethisches Niveau betrifft. Ist die Kritik am Erziehungskonzept des Institutes auch massiv, so kommt sie doch nicht plakativ, sondern subtil, ja oft auf dem Umweg über die Affirmation einher. Das sei nur an einem Beispiel verdeutlicht. Albert, der Held des Romans, der als 13-Jähriger von seiner warmherzigen Mutter dem kaltsinnigen Präfekten übergeben wird, tadelt das viele verlangte Schweigen, namentlich das "silentium religiosum" in den Exerzitien nicht, sondern lobt es ausdrücklich, wenn er es auch nicht ganz im Sinne der Erfinder benützt, sondern in seinem Sinne der verinnerlichten Subjektivität etwa zum Führen seines geheimen Tagebuchs. Aber auch das Fromme, das Beten, die Ohrenbeichte und die Spiritualität machen ihm keine unüberwindlichen Schwierigkeiten. Es gibt durchaus sympathische Lehrer und Bezugspersonen wie zum Beispiel den Musiklehrer Baumann, von dem sich der Zögling wegen seiner Sopranstimme geachtet fühlt. Sein Unglück resultiert aus dem überzeugend dargestellten "Kulturschock", den die Entwurzelung aus der vertrauten heimischen, ländlichen Umgebung und Umwelt in das schon durch die Monumentalität des riesigen und hochaufragenden "Vierkantgebäudes" (Rieger 1986, 8), des imposanten Gebäudes des Petrinums angezeigte Anonyme und "Objektive" bedeutet. Man könnte aber, wie angedeutet, aus dem Buch Internat in L. des Stifter-Preisträgers des Landes Oberösterreich Rieger durchaus auch eine Sympathie für den Ordnungsgedanken herauslesen, der den Untersuchungen des verstorbenen Salzburger Germanisten Walter Weiss zufolge nicht nur das Werk Stifters selbst, sondern die österreichische Gegenwartsliteratur insgesamt kennzeichnet (ähnlich wie der Habsburg-Mythos und der Hang zum Sprachspiel). Das Harmoniebedürfnis ist jedenfalls nicht viel geringer als die Bereitschaft zu Rebellion und Dissidenz.

Wollte man spitzfindig (oder dialektisch) sein, dann könnte man sich ja darüber wundern, dass aus den kritisierten Schulen so viele bedeutende Schriftsteller hervorgegangen sein sollten. Sind sie nur trotz oder vielleicht auch wegen ihrer Schulen das geworden, was sie geworden sind? Ein aphoristisches Gedicht Arnfrid Astels (geb. 1933), Eliteschulen betreffend, lautet: Wir hatten schlechte Lehrer, das war eine gute Schule. Das Positive an Franz Riegers Petrinum-Roman ist so gesehen die noble Defensivität beim Blick auf Negatives oder Bedenkliches. Gerade dadurch erinnert es an das meines Erachtens grandioseste Buch über Internate, Robert Walsers (1878-1956) Roman Jakob von Gunten (1909). Dort führt der Zögling Jakob in einem obskuren "Pensionat Benjamenta" auch ein Tagebuch, der Roman selbst ist eigentlich das Tagebuch, und das ergibt nach dem Urteil Walter Benjamins "eine ganz ungewöhnlich zarte Geschichte, in der die reine und rege Stimmung des genesenden Lebens liegt". Walsers Held ist freilich, verglichen mit Riegers im besten Sinn naivem Albert, ein ironischer, aristokratisch eigenwilliger "Windbeutel", dem nicht zu trauen ist. Ironie ist Rieger fremd. Seinen Helden zeichnet etwas aus, was man als Mimikry bezeichnen könnte. Er wehrt und schützt sich durch Unauffälligkeit.

Den eigentlichen Petrinum-Roman, in dem die Anstalt auch konkret so bezeichnet wird und viele Details real dargestellt werden, hat der in St. Marienkirchen im Innviertel 1890 geborene, 1965 in Linz verstorbene und in einem Ehrengrab in Hartkirchen bei Eferding bestattete Richard Billinger mit dem Buch Palast der Jugend. Aus dem Leben des Albin Leutgeb geschrieben. Das zweibändige Österreich-Lexikon nennt den 1951 veröffentlichten Roman eine "Autobiografie", was so dezidiert nicht stimmt. Das stark autobiografisch zu lesende, aber letztlich doch fiktional zu verstehende Buch handelt im ersten Drittel vom Heranwachsen des leicht behinderten, von einem kürzeren Fuß verunstalteten, somit "gezeichneten" Krämersohns Albin Leutgeb im "Inndorfe Wiesenhart", eines Sonderlings und Einzelgängers, der durch seine asoziale Starrköpfigkeit immer wieder Anstoß erregt und selbst die ihm Wohlgesinnten, wie die Magd Agnes oder seinen "Milchbruder" Sebastian vom Schloss Hackledt, zurückstößt. Der mittlere Teil des Romans, die Kapitel "Vor dem Aufbruche", "Der Prüfling", "Unterm Joche", "Ikarus", "Im Regenbottich", "Die Stromerscheune", "Exercitien und Consilium abeundi" handeln von Albins Leben im Petrinum, seinem Heimweh und den Ferien, die er als Studiosus daheim verbringt. Wie der Autor selbst wird auch sein Held Albin in der dritten Klasse der Anstalt verwiesen. Die Verfehlung, die ihm der Generalpräfekt in einem "Abschiedsgespräch" vorwirft, ist in der Hauptsache, neben kleineren Widersetzlichkeiten, die sogenannte "Separatfreundschaft" mit einem Mitschüler, die "strengstens untersagt" ist, weil sie "die Seele in Gefahr" (Billinger 1955, 126) bringe. Der dritte Teil des Romans erzählt die Zeit Albins als Student des Rieder Gymnasiums und seine planlosen Versuche, im Akademischen Fuß zu fassen, mit Wiederannäherungen an die Kirche (Kapuziner in Ried und Hall in Tirol) und schließlich vergeblichen Studien in Kiel und zuletzt Wien. Am Schluss, bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, findet man ihn, den Bummelanten und verkrachten Studenten, den auch zum Militärdienst Untauglichen, wieder daheim bei der enttäuschten Mutter, die über ihren zweiten Sohn Loisl, der in den Krieg zieht, bitterlich weint. Der Roman handelt so gesehen, auf das Internatsthema hin, von der Frühzeit des Petrinums. Ein späterer Leser wie ich, der ich von 1949 bis 1951 (dem Jahr des Erscheinens von Palast der Jugend) im Petrinum war, kommt gleichwohl aus dem Staunen und Wiedererkennen nicht heraus. Manchmal war mir, als würde Billinger, der in Hartkirchen mit Mitschülern von mir in den Ferien im Gasthaus der "Basl" Karten gespielt hat, meine Geschichte erzählen. Vielleicht ist es Peter Paul Wiplinger, einem meiner Mitschüler, der nach vielen Gedichtbänden nun auch Prosaerzählungen über seine Haslacher Kindheit und Jugend geschrieben hat, bei der Lektüre des Palasts der Jugend ähnlich ergangen, wo er im Unterschied zu mir auch ein Kaufmannssohn ist. Die Sprache des Romans weist alle rustikalen und expressionistischen Merk- und Sonderbarkeiten Billingers auf. (Einmal ist von einer "Fremdlingin" die Rede ...) Ins Auge springt ganz besonders ihre Altertümlichkeit mit den vielen, schon damals obsoleten Dativ-"e", die manchmal auch dort gesetzt sind, wo sie selbst nach der historischen Grammatik ungebräuchlich wären.

Heimat, bist du großer Töchter. Das alte Petrinum war als ‚Kaderschmiede‘ für den oberösterreichischen Priesternachwuchs natürlich männerdominiert und -orientiert. Frauen gab es dort nur in der Küche als Küchenmädchen. Die ‚höheren Töchter‘, aber auch Töchter aus dem Mittelstand und dem Bauernstand hatten ihre Internatsschulen bei den Schwestern des Ursulinenordens in Linz und bei den Kreuzschwestern in Orth bei Gmunden. Beide Institute wurden "berühmt" (oder auch "berüchtigt") durch Schriftstellerinnen: Gmunden durch die Steirerin Barbara Frischmuth (geb. 1941) und ihr großes Frühwerk Die Klosterschule (1968) und Linz durch Marlen Haushofer aus Frauenstein, die ihre Internatszeit in mehreren Werken, vor allem in Eine Handvoll Leben (1955) und Himmel, der nirgendwo endet (1966), beschrieben hat.

Alois Brandstetter

 

Billinger, Richard: Palast der Jugend. Aus dem Leben des Albin Leutgeb. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 5. Graz, Wien 1955. - Brandstetter, Alois: Petrinum. In: Ders.: Überwindung der Blitzangst. Prosatexte. Salzburg 1971, 18ff. - Frischmuth, Barbara: Die Klosterschule. Frankfurt/Main 1968. - Glechner, Gottfried: Die Vertreibung aus dem Paradies. Erinnerungen an die Kindheit. Ried/Innkreis 1983. - Haushofer, Marlen: Eine Handvoll Leben. Roman. Wien 1955. - Dies.: Himmel, der nirgendwo endet. Roman. Hamburg 1966. - Rieger, Franz: Internat in L. Darstellung eines empfindsamen Charakters. Roman. Graz 1986. - Wiplinger, Peter Paul: Lebensbilder. Geschichten aus der Erinnerung. Grünbach 2003.

Asanger, Franz: Begegnungen mit Petriner Literaten-Eine Skizze. In: Bischöfliches Gymnasium Petrinum, 100. Jahresbericht, Schuljahr 2003/04. - Girtler, Roland: Die alte Klosterschule. Eine Welt der Strenge und der kleinen Rebellen. Wien 2000. - Klaus, Johann: Grenze und Halt. Der Einzelne im "Haus der Regeln". Zur deutschsprachigen Internatsliteratur. Heidelberg 2003. - Kollegium Petrinum-100 Jahre-1897-1997. Jahresbericht 1997/98. Festschrift und 94. Jahresbericht Bischöfliches Gymnasium und Internat. Linz 1997. - Wiesmüller, Christine: Auftrag und Unterwerfung. Strukturanalyse christlicher Mädchenerziehung. Studien zur qualitativen Sozialforschung. Wien 1989.