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Alois Brandstetter

© Lukas Beck

Geb. 5.12.1938 in Aichmühl bei Pichl (OÖ).
Als Autor viel gelesener Romane und Erzählungen einer der bekanntesten und beliebtesten oberösterreichischen Schriftsteller seit den 1970er Jahren.

Die ländliche Herkunft aus dem Hausruck und ihre teils haltgebende, teils verschreckende Einwirkung sind für Brandstetters Prosadichtung zugleich Schreibimpuls und bevorzugtes Thema. Die frommen Eltern, Martin Brandstetter (1896-1977) und Anna (geb. Berger, 1896-1971), betrieben eine Mühle mit Schwarzbäckerei und Sägewerk. Ängste und Klaustrophobien prägten die Kindheit des jüngsten von sieben Geschwistern. Auf Drängen des Pfarrers wurde Brandstetter nach der Volksschule in Pichl 1949 in das geistliche Knabenseminar Collegium Linzer Petrinum geschickt. Die disziplinarische Relegation des Zwölfjährigen aus dieser Eliteschule (die sich heute des unbotmäßigen Zöglings stolz erinnert) blieb als empfundenes Versagen vor geistig-geistlicher Verpflichtung traumatisch. Die Restschulzeit am Bundesgymnasium Wels war mühelos (Matura mit Auszeichnung 1957). Eine Bewerbung an der Wiener Kunstakademie scheiterte, sodass Brandstetter sein reiches bildkünstlerisches Schaffen (Landschafts-, Baudenkmal- und Porträtmalerei, Genreszenen) lange vor der Öffentlichkeit verbarg (eine größere Ausstellung ließ er erst zum 70. Geburtstag 2008 in Pichl zu).

1957-61 studierte Brandstetter Germanistik und Geschichte an der Universität Wien. Schon nach acht Semestern lag die Doktorarbeit vor: Laut- und bedeutungskundliche Untersuchungen an der Mundart von Pichl bei Wels - schon mit vielen später poetisch abgewandelten Motiven. Dreiundzwanzigjährig wurde er 1962 auf Empfehlung des promotionsbetreuenden Kärntner Dialektologen Eberhard Kranzmayer als Assistent an die Universität des Saarlandes geschickt. Mehr noch als die Großstadt Wien löste die säkularisiert-protestantische Fremde neben Heimweh-Attacken produktive Kulturschocks aus (Spuren im Roman Die Burg). Im Saarbrücken der Universitätsrevolten von 1968 etablierte sich Brandstetter literarisch, nachdem er schon in Wien, fasziniert auch von Thomas Bernhards Wortkaskaden, Verbindung zur sprachexperimentellen "Wiener Gruppe", namentlich zu H.C. Artmann (1921-2000), gewonnen hatte. Neben dem Kant-Forscher Rudolf Malter (1937-1994; gemeinsame Gründung der Saarbrücker Beiträge zur Ästhetik, 1966) war er befreundet mit Ludwig Harig (geb. 1927) und Arnfrid Astel (geb. 1933), erfuhr entscheidende Förderung durch Gerhard Fritsch (1924-1969).

Erste Publikationen - neben sprachkritischen Aufsätzen scharf satirisch sprachspielende Kurzprosa - erschienen in Zeitschriften und in einem Szene-Verlag (Harlekin-Presse, Pforzheim). Nach der Habilitation (Prosaauflösung. Studien zur Rezeption der höfischen Epik im frühneuhochdeutschen Prosaroman) 1971 zum Professor ernannt, nahm Brandstetter 1971/72 eine Lehrstuhlvertretung in Salzburg wahr, die ihn in produktiven Kontakt zum Residenz Verlag und wieder zum österreichischen Literaturbetrieb (Peter Rosei, Julian Schutting, Barbara Frischmuth) brachte. Bei den "Rauriser Literaturtagen" lernte er Günter Eich, Ilse Aichinger, Uwe Johnson, Adolf Muschg und Peter Handke kennen. Bei Residenz erschienen seit 1971 mit raschem Erfolg Erzählsammlungen und der erste Rollenroman Zu Lasten der Briefträger (1974), bis heute sein Bestseller. Neue kritische "Heimat"-Reflexionen fasste 1973 seine Anthologie Daheim ist daheim programmatisch zusammen. 1974 wurde Brandstetter zum Ordinarius für Deutsche Philologie (Mediävistik und Linguistik) an die Universität Klagenfurt berufen, 2007 emeritiert.
So entstand Brandstetters gesamtes bisheriges Werk in zumeist frühmorgendlicher Nachtarbeit. 1977 heiratete er die Diplompädagogin Suchra Selmann (geb. 1950), mit ihr hat er zwei Söhne, Andreas (geb. 1979) und Markus (geb. 1983) und lebt nach wie vor in Klagenfurt. Er wurde Mitglied des P.E.N-Zentrums Österreich und hatte zeitweilig den Vorsitz der Landesgruppe Kärnten inne. Franz Innerhofer (1944-2002) und Josef Winkler (geb. 1953) haben Brandstetter als ihren initialen Mentor bezeichnet.

Sein Prosawerk - er schrieb weder Lyrik noch Dramen - gründet in der Skepsis gegen traditionelle Erzählabläufe auf dem Erkenntnisspiel reflexiver Sprachverantwortung. Tragende Stilmittel sind Iteration und Zitatcollage, Amphibolie und Kontrastierung, Wortspiele und komisches Wörtlichnehmen. Die dünne Fiktionsschicht dient dazu, die (meist allein zu Wort kommenden) Rollenredner und ihr Monologisieren zu legitimieren. Die Kurzprosa hat Brandstetter als stilisiert-konzentriertes Sprach-Probehandeln bestimmt, näher dem lyrischen als dem epischen Gestus ("gedichtmäßig genau gearbeiteter artefakter Text"). Begriffe wie "Roman" und selbst "Erzählung" hat er für seine längeren Prosaarbeiten durchweg relativiert: Insofern es kaum äußere "Handlung" gibt, ist der "Inhalt" die monomanische Selbstrechtfertigungs-, Klage- oder Anklagerede der jeweiligen Sprechinstanz, eine satirisch überspitzte "Schwadronade", die sich assoziativ kreiselnd über Schiefheiten und Missstände erhebt. Spannung stiftet nicht der (nie an ein Ende geführte) Inhalt, sondern der Sog forttreibenden Beredens. Die differenten Redeinstanzen - vom künstlich naiven Kindersprechen bis zum Relativismus der Greisenperspektive - geben dem jeweiligen Text seine spezifische Metaphorik sowie ganz unterschiedliche Einstellungen des Weltbesichtigens. Diese Sprecher sind so konträren Romanfiguren zugeordnet wie dem Querulanten gegen moralischen Verfall im Postdienst (Zu Lasten der Briefträger), dem besserwisserisch-verkannten Provinz-Kriminalisten (Die Abtei, 1977), dem abgehalfterten Müllereifach-Lehrer (Die Mühle, 1981), dem Saboteur in der Denkmal-Behörde (Altenehrung, 1983), dem unter dem Vorwand seiner Familienpflichten scheiternden Universitätsassistenten (Die Burg, 1986), dem unwilligen Vorbereiter einer Grillgasterei (So wahr ich Feuerbach heiße, 1988), dem Dorfgastwirt, der als Schlüsselbewahrer einer freskengeschmückten Kirche alle Besichtigungswünsche zu obstruieren weiß (Hier kocht der Wirt, 1995), ferner dem menschlicher Hinfälligkeit konfrontierten Notarzt-Chauffeur (Groß in Fahrt, 1998), dem bürgerlich-unangepassten Grafitti-Bewunderer (Ein Vandale ist kein Hunne, 2007) oder noch dem Philosophensekretär, der seinen Herrn beredet (Cant läßt grüßen, 2009). Nur wenig stärker fiktionalisiert sind historisierte Sujets (mit kalkulierten Anachronismen), das Nachsinnen des klösterlichen Malers Koloman Fellner bei einem Besuch Napoleons über Tyrannenmord (Vom Manne aus Eicha, 1991) oder die Vermahnung des Abts an den Meier Helmbrecht-Dichter Wernher der Gartenaere wegen des für die dichterische Nebentätigkeit vernachlässigten Klostergartens (Der geborene Gärtner, 2005).

Alle diese quer zu den Erfolgsrezepten ihrer Zeit stehenden "Wortführer der artikulierten Klage und Anklage" haben in je unterschiedlichen Annäherungen (chronologisch zunehmend) an den Lebenserfahrungen ihres Verfassers teil, seinem Lektüre-, Gesellschafts- und sogar Berufswissen (etwa der Liebe zu etymologischer Wortdurchleuchtung), seinen idealisch wertkonservativ und kirchlich bestimmten Grundhaltungen, einem anarcho-fundamentalistischen Aufbegehren gegen Zeitgeist und Moden -, wenn nicht gar der Erzähler identifikatorisch an seinen Autor heranrückt wie in den "autobiografischen" Erzählungen aus der ländlichen Herkunftssphäre (u. a. Vom Schnee der vergangenen Jahre, 1979; Über den grünen Klee der Kindheit, 1982) und in Monologen im eigenen Namen wie Vom HörenSagen, Almträume, Schönschreiben und Die Zärtlichkeit des Eisenkeils (2000). Die meinungsfreudigen Statements der Rollenfiguren sind nicht einfach Sprachrohr von Autor-Meinungen, vielmehr ein zum Stellungbeziehen und oft zum Widerspruch einladendes positionelles Gedankenspiel für mündig Mitdenkende. Das normative Messen tatsächlicher Zustände am programmatischen Ideal wird im Frühwerk eher sarkastisch spottend, später in gelinderen Formen ironischer Diskrepanzanzeigen aufgerufen. Humor stiftet die beständige Selbstreflexivität der Erzählform, das Unterhöhlen der Erzählerautorität, ein Ineinander-Verspiegeln von Positionen, Redewendungen, intertextuellen Kontrastserien. Widerlager der inszenierten Lustigkeit ist eine periodisch durchschlagende depressive Grundstimmung. Von der Ausweglosigkeit in Groß in Fahrt und kategorischer Absage ans Schreiben mit und nach Die Zärtlichkeit des Eisenkeils heben sich in den jüngsten Arbeiten eher altersheitere, mild-satirisch spielerische Texturen ab - geradeso wie beim malerischen Œuvre unbekümmert um Markterfordernisse und angesagte Trends. Ein unverkennbar strukturverwandter, eigengewichtiger Teil des Gesamtwerks sind die großen Essays zu Bildbänden, zuletzt Wels. Eine Stadt im Porträt (zu Fotos v. a. von Josef Neumayr, 2005) und Oberösterreich. Das unvergleichliche Land (zu Fotos von Manfred Horvath, 2008).

Brandstetter erhielt zahlreiche Literaturpreise, darunter 1973 Förderungspreis Oberösterreich, 1975 Förderungspreis Kärnten, 1980 Kulturpreis Oberösterreich, 1983 Rauriser Bürgerpreis, 1984 Wilhelm-Raabe-Preis, 1991 Kulturpreis Kärnten, 1994 Heinrich-Gleißner-Preis, 2000 Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst, 2005 Adalbert-Stifter-Preis. Seit 1998 ist er Ehrenbürger seiner Heimatgemeinde Pichl/Wels.

Hans-Jürgen Schrader

 

Überwindung der Blitzangst. Salzburg 1971. - Zu Lasten der Briefträger. Salzburg 1974. - Der Leumund des Löwen. Geschichten von großen Tieren und Menschen. Salzburg 1976. - Die Abtei. Salzburg 1977. - Vom Schnee der vergangenen Jahre. Winter- und Weihnachtsgeschichten. Salzburg 1979. - Die Mühle. Salzburg 1981. - Über den grünen Klee der Kindheit. Salzburg, Wien 1982. - Altenehrung. Salzburg, Wien 1983. - Die Burg. Salzburg, Wien 1986. - Kleine Menschenkunde. Salzburg, Wien 1987. - So wahr ich Feuerbach heiße. Salzburg, Wien 1988. - Vom Manne aus Eicha. Salzburg, Wien 1991. - Hier kocht der Wirt. Salzburg, Wien 1995. - Groß in Fahrt. Salzburg, Wien 1998. - Die Zärtlichkeit des Eisenkeils. Salzburg, Wien 2000. - Der geborene Gärtner. St. Pölten, Salzburg 2005. - Ein Vandale ist kein Hunne. St. Pölten, Salzburg 2007. - Oberösterreich. Das unvergleichliche Land. (Fotos von Manfred Horvath.) St. Pölten, Salzburg 2008. - Cant läßt grüßen. St. Pölten, Salzburg 2009. - Kummer ade ! St. Pölten 2013.

Eder, Alois: Perseveration als Stilmittel moderner Prosa. Thomas Bernhard und seine Nachfolge in der österreichischen Literatur. In: Annali. Studi tedeschi 22 (1979), 65-100. - Ernesti, Jörg: "Wie durch das umgekehrte Fernrohr". Die Kirchenkritik des Romanciers Alois Brandstetter. In: Geist und Leben 76 (2003), 458-468. - Firchow, Evelyn S. und Peter E.: Interview mit Alois Brandstetter. In: Modern Austrian Literature 29 (1996), 23-28. - Geisler, Siegmund: Der Erzähler Alois Brandstetter. St. Ingbert 1992. - Gstättner, Egyd (Hg.): Vom Manne aus Pichl. Über Alois Brandstetter. Salzburg, Wien 1998. - Haubrichs, Wolfgang: Der doppelte Schriftsteller. Bemerkungen zu einer ideologiekritischen Verwechslung. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 53/54 (1984), 245-254. - Lachinger, Johann; Pittertschatscher Alfred (Hg.): Alois Brandstetter. Linz 1998 (= Die Rampe 1998, Porträt). - Laßl, Josef: Alois Brandstetter. Spiele des Spottes. In: Vierteljahrsschrift des Adalbert-Stifter-Instituts 13 (1974), 61-65. - Schrader, Hans-Jürgen: Klosterraub südwestlich, nördlich, südöstlich. Vom Eigen-Sinn der humoristischen Erzählform in C.F. Meyers Plautus im Nonnenkloster, W. Raabes Kloster Lugau und A. Brandstetters Die Abtei. In: Heinrich Kröger (Hg.): Humor und Regionalliteratur. Soltau 1997, 16-41. - Ders.: Sphärensprünge vom Landleben zur Literatur. Von Bräker bis Brandstetter. In: Alfred Messerli und Adolf Muschg (Hg.):Schreibsucht. Autobiografische Schriften des Pietisten Ulrich Bräker (1735-1798). Göttingen 2004, 93-115. - Ders.: "Daheim ist daheim". Frühe Impulse neuer "Heimat"-Vermessung bei Adolf Muschg, Guntram Vesper und Alois Brandstetter. In: Eduard Beutner und Karlheinz Rossbacher (Hg.): Ferne Heimat-Nahe Fremde. Bei Dichtern und Nachdenkern.Würzburg 2008, 240-263. - Strutz, Johann: Alois Brandstetter. In: Kritisches Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG). Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München (Stand 1982; Nachlieferung 1985). - Tatzreiter, Herbert: Dialektales in einem standardsprachlichen Text, Vorkommen und Funktion. In: ders., Maria Hornung und Peter Ernst (Hg.): Erträge der Dialektologie und Lexikographie. Festgabe für Werner Bauer. Wien 1999, 463-479. - Telera, Gabrielle: Satire, Ironie und Humor in Alois Brandstetters Werken. Turin 1995. - Windfuhr, Manfred: Kleine literarische Entdeckungsreise: Brandstetter, Hilbig und Lange-Müller. In: Ariane Neuhaus-Koch und Gertrude Cepl-Kaufmann (Hg.): Literarische Fundstücke. Heidelberg 2002, 507-516.