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Komm über den See

Cover der Erstausgabe 1988

Erzählung von Elisabeth Reichart, erschienen 1988 im S. Fischer Verlag (Frankfurt/Main), erschienen, neu aufgelegt 2001 im Deuticke Verlag (Wien).

Wie in ihrem Debütroman Februarschatten erweist sich Elisabeth Reichart auch in diesem Text als "autorin von unbestechlicher intelligenz und unbedingter leidenschaft" sowie als "herausragende stilistin" (Rühm 1995, 82f.).

Die Erzählung handelt von einer Geschichte- und Englisch-Lehrerin, die als Karenzvertretung von Wien nach Gmunden geht und dort mit ihrer Vergangenheit und der ihrer Mutter konfrontiert wird. Ähnlich wie in Februarschatten spielt auch in diesem Text die Problematik von Krieg und Verdrängung eine zentrale Rolle (vgl. Böhmel Fichera 1992; Hertling 1991; Koppensteiner 1992). In Gmunden angekommen, erinnert sich die Hauptfigur der Erzählung, Ruth Berger, an eine Schuhschachtel mit Ansichtskarten des Orts, die sie einst im Kleiderkasten ihrer Mutter gefunden hatte. Die Karten stammten alle von einer gewissen Anna Zach. Als Berger die Schrift einer Schülerin mit diesem Namen unter den Schularbeiten ihrer Klasse findet, beschließt sie, deren Großmutter einen Besuch abzustatten. Dort erfährt sie, dass ihre Mutter Anna verraten hatte, um Ruth, ihre Tochter, zu retten. Ihre Mutter war daraufhin in einem KZ interniert worden und zerbrach nach ihrer Rückkehr an den psychischen und physischen Folgen der Inhaftierung und wohl auch an dem Verrat an ihrer Freundin Anna. Ruth möchte Anna als Zeitzeugin einladen, um ihren Schülern etwas über den weiblichen Widerstand zu vermitteln, doch der Direktor droht ihr damit, dass sie dann ihren Job verlieren würde. So muss Ruth Berger, die eigentlich Brigitta Schwarz heißt - eine Referenz zu Brigitta von Adalbert Stifter -, Anna erneut verraten.
Wie eine Kette spinnt sich der Verrat von Generation zu Generation weiter. Die Geschichte, Familiengeschichte wie politische Geschichte, vor allem aber deren Vertuschung bedeutet eine Bedrohung der eigenen Identität. Sie lässt Ruth nicht zu sich selbst finden, sondern immer wieder im "Moor" landen - eine wohl auf Ingeborg Bachmanns Erzählung Undine geht (vgl. Cornejo 2006, 61) anspielende Chiffre für Depression -, dem sie zu entrinnen gehofft hatte, dem aber schon ihre Mutter nicht entkommen hatte können.

Der Titel der Erzählung ist einem Gedicht von Sarah Kirsch entnommen, das der Erzählung als Motto vorangestellt wurde. In Reicharts Text meint See aber natürlich den Traunsee, der als mythenbildendes Wasser ("Schlafende Griechin") die Erzählung symbolisch-poetisch auflädt, aber auch in seiner verschlingenden, bedrohlichen Kraft erscheint. Der Imperativ des Titels bedeutet mythische Verlockung und Befehl zugleich und deutet die Unentrinnbarkeit des Verhängnisses an, dem Ruth schließlich erliegt.
Reichart verarbeitet in ihrer Erzählung Fakten über den weiblichen Widerstand, die sie insbesondere in ihrer Dissertation mit dem Titel Heute ist morgen. Fragen an den kommunistisch organisierten Widerstand im Salzkammergut (1983) gesammelt hatte (vgl. auch Februarschatten). Paradigmatisch wird in der Erzählung vorgeführt, wie die postfaschistische Gemeinschaft in Österreich auf Verdrängung und Geheimhaltung basiert. Vergeblich versucht sich Ruth Gmunden mit Peter Altenberg als lieblichen Ort (vgl. 45) auszumalen: "Ruth war Gmunden, die Stadt, die so wenig von dieser Zeit an sich hat und doch in der Zeit ist, unheimlich. Sie wurde das Gefühl nicht los, es ist ein Raum, mit Milch getüncht, und jeden Moment können die Fassaden abbröckeln, die Fratzen zum Vorschein kommen, die Menschen übereinander herfallen, wie schon öfter hier." (54) Damit schreibt sich Reicharts Erzählung in die Tradition der österreichischen Antiheimatromane ein, die, beginnend mit Hans Leberts Wolfshaut (1960) und Gerhard Fritschs Fasching (1967) bis herauf zu Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek, die österreichische Provinz als Hort faschistischen Gedankenguts und brutaler Verbrechen beschreiben, wo es nur den äußeren Firnis abzukratzen gilt, um die darunter verborgenen Leichen sichtbar machen zu können. Reichart verdichtet diesen Sachverhalt in dem an Bachmann erinnernden Satz "Die Orte [...] müßten Trauer tragen" (182; vgl. Vansant 2000), der freilich weniger von der bissigen Satire mancher Antiheimatromane als von einer existenziellen Melancholie getragen ist.

Nicole Streitler

 

Komm über den See. Erzählung. Wien 2001 [Referenzausgabe] (zuerst: Frankfurt/Main 1988).

Böhmel Fichera, Ulrike: "Aus dem Dunkel des Vergessens aufgestört". Vergangenheitsbewältigung in den Texten deutschsprachiger Autorinnen der achtziger Jahre. Tübingen u .a. 1992. - Cornejo, Renata: Das Dilemma des weiblichen Ich. Untersuchungen zur Prosa der 1980er Jahre von Elfriede Jelinek, Anna Mitgutsch und Elisabeth Reichart. Wien 2006. - Hertling, Viktoria: Bereitschaft zur Betroffenheit. Neueste österreichische Prosa über die Jahre 1938 bis 1945. In: German Studies Review 14 (1991), 275-291. -Koppensteiner, Jürgen: Zwischen Anpassung und Widerstand. Bemerkungen zu zeitkritischen Prosawerken von Peter Henisch, Elisabeth Reichart und Gerald Szyszkowitz. In: Modern Austrian Literature 25 (1992), 41-59. - Rühm, Gerhard: Prosa von erhöhter Temperatur. In: Michael Cerha (Hg.): Literatur-Landschaft Österreich. Wien 1995, 82f. - Vansant, Jacqueline: "Die Orte müßten Trauer tragen" mapping the past in Elisabeth Reichart's Komm über den See. In: Gerald Chapple (ed.): Towards the Millenium. Interpreting the Austrian novel 1971-1996. Zur Interpretation des österreichischen Romans 1971-1996. Tübingen 2000, 185-201.