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Der Hagestolz

Stich von Joseph Axmann nach einer Zeichnung von Peter Johann Nepomuk Geiger; © Adalbert-Stifter-Institut / StifterHaus

Erzählung von Adalbert Stifter, erschienen 1845 im Almanach Iris (Journalfassung) bzw. 1850 (Buchfassung) bei Gustav Heckenast in Budapest.

Die Erzählung eröffnet die dritte Folge der Studien, die erst 1850 erscheinen konnte, obwohl Teile - so auch der Text des Hagestolz - schon vor 1848 gesetzt worden waren. Obwohl nach der Revolution das literarische Interesse sowohl für die Almanache als auch für Adalbert Stifters Werke erheblich nachließ, fand Der Hagestolz lebhafte Resonanz, die den Verleger schon 1852 eine separate Miniaturausgabe drucken ließ.

Der Titel nennt den literarisch damals öfter thematisierten Typ des unverheiratet gebliebenen älteren Mannes. Anders als die üblicherweise lächerliche Komödienfigur ist es ein ernsthafter, wenn auch sonderlicher Vertreter der älteren Generation, dem sein Neffe, ein junger Wanderer (Zentralfigur auch in anderen Stifter-Werken), gegenübersteht. Der Opposition der Generationen entspricht die der Orte: Eine abgelegene, allein vom Oheim bewohnte Insel inmitten unzugänglicher Bergwelt (der Hallstätter See stand Modell; vgl. Hallstatt) kontrastiert mit der Frühlingslandschaft, durch die eine Schar junger Leute zieht; Victor, der Neffe, gehört dazu, er lebt bei seiner Ziehmutter und deren Tochter in einem freundlich-offenen Tal.
Den Alten beschäftigt "das Ding, das man Alter heißt" (122); einsam, weil er erfolglos einst um Victors Ziehmutter geworben hatte, lebt er inmitten von Attributen, die an den kranken Dichter Nikolaus Lenau (1802-1850) erinnern, und wartet auf den Tod. Victor dagegen befindet sich in der Latenzphase zwischen Studien-Ende und Berufsanfang. Sein eng denkender Vormund hat ihn bereits zu einem Amt bestimmt, vor dessen Antritt er allerdings - auf expliziten Wunsch ihres sonderlichen Bewohners - der Insel zu Fuß einen Besuch abstatten muss.

Während der Dichter die Journalfassung mit dem Bild des Alten beginnen lässt, eröffnet die Buchfassung mit den jungen Leuten und schließt den ersten Abschnitt mit dem Alten. Was dem "Gegenbild" (13), wie das erste Kapitel der Buchfassung überschrieben ist, als ‚Bild‘ entgegenzustellen ist, bleibt zunächst offen und hat nach der Hauptperson dieses Textes fragen lassen: Ist sie der alte Mann mit seinem unkonventionellen, wenn auch rigiden Erziehungsprogramm oder der Neffe Victor (=‚Sieger‘), von dem der Leser eigentlich nur erfährt, dass er nicht heiraten will? Wer ist Subjekt, wer Objekt bei der wechselseitigen Annäherung und Beeinflussung? Ebenso unbestimmt bleibt der Zeitraum des Insel-Besuchs. Ursprünglich war er bis zu Victors Amtsantritt geplant, wird dann aber durch eine Intervention des Oheims verschoben und schließlich durch die Ankündigung eines reichen Testaments gänzlich überflüssig. Ein "herrliches Leben" als "eigener Herr, der Mittel hat" (Ha 138), steht Victor bevor.
Was der Alte versäumt hat, nachdem er die Ziehmutter Victors wegen deren Verhältnis zu seinem Bruder ablehnte, kann Victor gleichsam stellvertretend mit deren Ebenbild, der Tochter, korrigieren. Er wählt Hanna, seine Ziehschwester, zur künftigen Gattin. Wesentlichster Anstoß dazu ist die Lebenssinn-Maxime des Onkels: "Heirathen mußt du [...] Um wen bei seinem Alter Söhne, Enkel und Urenkel stehen, der wird oft tausend Jahre alt." (121f.) Die Beziehung der beiden jungen Leute bahnt der Autor in der ihm eigenen Diskretion bei Liebesthemen an. Der Onkel hat selbst "kein Bild geprägt", wie es am Ende heißt (142); jedoch mildert der Erzähler für ihn das biblische Gleichnis vom verdorrten Feigenbaum, der hier nicht verbrannt wird, sondern wie alles Irdische - nur früher - vergeht.

Die Frage nach einem Fortleben in den eigenen Kindern wird damit zentral, sie lässt den Text als Beispiel für "literarische Trauerarbeit" (Hartmut Reinhard) erscheinen, mit der der unter kinderloser Ehe leidende Autor ein Grundthema bewältigt. Ähnlich wie im Hagestolz ein Vertreter der älteren Generation in einem jüngeren Verwandten wenn nicht fortlebt, so doch zu dessen Familienleben ein sicheres Fundament bereitstellt, lässt Stifter auch im Nachsommer Freiherr von Risach für die Ehe von Heinrich Drendorf, den jungen Naturforscher, sorgen. Der Hagestolz kann also auch als ein Präludium zu diesem Hauptwerk gelesen werden.

Ulrich Dittmann

 

Der Hagestolz. In: Adalbert Stifter: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Im Auftrag der Kommission für Neuere Deutsche Literatur der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald [seit 2000 Hartmut Laufhütte]. Stuttgart u. a. 1978ff. (= HKG). Bd. 1,3: Studien. Journalfassungen 3. Hg. von Helmut Bergner und Ulrich Dittmann. Stuttgart u. a. 1980, 9-108. - Der Hagestolz. In: HKG, Bd. 1,6: Studien. Buchfassungen 3. Hg. von Helmut Bergner und Ulrich Dittmann. Stuttgart u. a. 1982, 9-142 (= Referenzausgabe).

Bittrich, Burkhard: Das Eingangskapitel von Stifters Hagestolz. Eine Interpretation. In: Vierteljahrsschrift des Adalbert-Stifter-Instituts 8 (1959), 92-99. - Enzinger, Moriz: Der Schauplatz von Stifters Hagestolz. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zu Adalbert Stifter. Wien 1967, 54-66. - Gelley, Alexander: Stifters Hagestolz. An Interpretation. In: Monatshefte für den deutschen Unterricht 53 (1961), 59-72. - Reinhard, Hartmut: Literarische Trauerarbeit. Stifters Novellen Das alte Siegel und Der Hagestolz als Erzähltragödien. In: Walter Hettche, Johannes John und Sibylle von Steinsdorff (Hg.): Stifter-Studien. Ein Festgeschenk für Wolfgang Frühwald zum 65. Geburtstag. Tübingen 2000, 20-39. - Seidler, Herbert: Adalbert Stifters Novelle Der Hagestolz. In: Ders.: Studien zu Grillparzer und Stifter. Wien u. a. 1970, 257-281. - Susteck, Sebastian: Das Rätsel Partnerwahl. Ein Gespräch in Adalbert Stifters früher Erzählung Der Hagestolz und die späten Texte Der Kuß von Sentze und Der fromme Spruch. In: Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich 13 (2006), 37-48. - Wessel, Elsbet: Am Rande der Existenz. Über Adalbert Stifters Novelle Der Hagestolz. In: John Ole Askedal (Hg.): Osloer und Rostocker Studien zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Oslo 1991, 167-184.