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Ilse Aichinger

Foto: Maria Gintenstorfer; © Adalbert-Stifter-Institut / StifterHaus

Geb. 1.11.1921 in Wien, gest. 11.11.2016 ebd.
Als eine der bedeutendsten Nachkriegsautorinnen Österreichs nahm Aichinger bereits 1945 in ihren ersten Veröffentlichungen den ‚behutsamen Kampf‘ gegen offene und verdeckte Machtkonstruktionen in unserer Sprache und Gesellschaft auf und wird bis heute nicht müde, dies in ihrer stillen, wenn auch radikalen Weise zu tun.

Ilse Aichinger wurde gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Helga als Tochter der Ärztin Berta Aichinger (geb. Kremer, 1891-1983) und des Bürgerschullehrers Ludwig Aichinger (1882-1957) in Wien geboren und wuchs zunächst in Linz auf. Als sich Berta Aichinger 1927 vom Vater ihrer Kinder trennte, da sich durch dessen Sucht, Bücher zu kaufen, eine finanziell stabile Situation als unmöglich herausgestellt hatte, zog sie mit den fast sechsjährigen Mädchen zu deren Großmutter Gisela Kremer nach Wien. In Ilse Aichingers Leben und Werk spielt denn auch Wien eine sehr große Rolle, während Linz in ihren Texten nur äußerst selten vorkommt, meist in Verbindung mit kurzen Spaziergangsschilderungen und in den wenigen Erinnerungen an den Vater.
Berta Aichinger war bereits vor der Geburt ihrer Kinder vom jüdischen zum katholischen Glauben konvertiert. Die beiden Mädchen wurden getauft, Ilse Aichinger 1938 im Stephansdom noch gefirmt. Sie maturierte im Juli 1939. Im selben Sommer floh ihre Schwester Helga mit einem Kindertransport nach England. Ilse Aichinger und ihre Mutter verblieben vorerst in Wien und wollten nachkommen, doch der Mutter wurde die Ausreise verwehrt und Ilse konnte mit ihrem Verbleib in Wien im Haushalt der Mutter diese als "Mischling 1. Grades" nach den Rassegesetzen bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres vor der Deportation schützen. Aus Rassengründen wurde ihr das angestrebte Medizinstudium verwehrt, Aichinger und ihre Mutter wurden ‚dienstverpflichtet‘. Am 6. Mai 1942 wurde Aichingers Großmutter Gisela Kremer mit ihren Kindern Felix und Erna nach Minsk deportiert - keiner von ihnen kehrte zurück.

Am 1. September 1945 erschien Aichingers Text Das vierte Tor im Wiener Kurier. Es war der erste Text der österreichischen Nachkriegsliteratur, der das Wort "Konzentrationslager" aussprach. Im selben Jahr begann Aichinger auch die Arbeit an ihrem ersten und einzigen Roman, Die größere Hoffnung (1948). Im Wintersemester konnte sie außerdem endlich das Medizinstudium aufnehmen. Ihr berühmter Aufruf zum Mißtrauen erschien 1946 in der ersten Ausgabe der Zeitschrift Der Plan. Sie mahnte darin bereits ein Jahr nach Ende des Krieges, sich beim Übergang in die gefährliche ‚Normalität‘ selbst zu misstrauen - eine Haltung, die später auch Ingeborg Bachmann ihrem Text Unter Mördern und Irren (1961) zugrunde legte. Mit dem Aufruf zum Mißtrauen leitet Aichinger die für ihr Schreiben typische Sprach- und Gesellschaftskritik ein und erreicht später, auch in poetologischen Texten, eine Intensität der Hinterfragung von Sprache, die bis an die Grenze der Auflösung ihrer alltäglichen Bedeutung führt. Aichingers Sprachbewegung ist eine prüfende, Sprach- und Erkenntniskritik markiert ihr gesamtes Werk.
Nach fünf Semestern brach Aichinger 1947 ihr Medizinstudium ab, um mit der finanziellen Hilfe des Bermann Fischer Verlags bis zum Ende des Jahres Die größere Hoffnung zu vollenden. Der Roman verfolgt den Weg der jungen Halbjüdin Ellen von der großen Hoffnung auf ein Visum hin zur größeren Hoffnung Tod und Frieden in einer anderen, jenseitigen Welt, "wo alles blau ist". Die Farbe gilt den Text hindurch als Hoffnungssignal, das aber mitunter auch als trügerisch entlarvt wird. In einer sehr poetischen Form, die zugleich aber auch sprachkritisch funktioniert, thematisiert der Roman Verfolgung, Ausgrenzung, Abschiede und die Weigerung eines Kindes, sich in diese gewaltsame Welt der Erwachsenen zu integrieren.

Von Dezember 1947 bis März 1948 konnten Mutter und Tochter Aichinger nach zweijährigem Warten auf ein Visum endlich Helga Aichinger in London besuchen. Ilse Aichinger arbeitete in England zeitweise in einer Knopffabrik, was sie später zum Hörspiel Knöpfe (1953 erstausgestrahlt) inspirierte. Nach ihrer Rückkehr war sie als Hilfskraft in der Wiener Niederlassung des Fischer Verlags angestellt, später auch einmal kurze Zeit als Lektorin in Frankfurt. 1951 folgte sie der Einladung Inge Scholls zur Mitarbeit beim Aufbau der "Geschwister-Scholl-Stiftung" und der "Hochschule für Gestaltung" in Ulm. Ab 1952 konnte Aichinger von Stipendien und ihren literarischen Arbeiten leben. Einen wesentlichen Beitrag dazu leistete auch der Preis der Gruppe 47 im Jahr 1952 für die Spiegelgeschichte; er machte die Autorin erst einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.
Aichinger lernte im Laufe der Zeit - auch über die Gruppe 47, an deren Treffen sie regelmäßig teilnahm - die meisten wichtigen deutschsprachigen Schriftsteller nach 1945 kennen: u. a. Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Thomas Bernhard, vor allem aber Günter Eich (1907-1972), den sie 1953 heiratete und mit dem sie nach Lenggries (Bayern) übersiedelte. Am 22. Mai 1954 kam ihr Sohn Clemens zur Welt, der später selbst Schriftsteller werden sollte und 1998 tragisch verunglückte. Am 1. Januar 1957 wurde die Tochter Mirjam geboren. 1963 zog die Familie nach Großgmain bei Salzburg, wo große Teile von Aichingers Werk entstanden, oft in engem künstlerischen Austausch mit Günter Eich. Nach dem Tod von Aichingers Mutter 1983 übersiedelte die Autorin auf Einladung des Fischer-Verlags nach Frankfurt und kehrte 1988 schließlich nach Wien zurück.

Sprachlich ist in ihrem Werk eine zunehmende Verknappung und Präzisierung zu erkennen. Der Band Kleist, Moos, Fasane, der in großem zeitlichen Abstand zu den vorhergehenden Bänden 1987 entstand, stellt allerdings inhaltlich und auch sprachlich einen Übergang zu Aichingers Spätwerk dar. Im Jahr 2000 eröffnete sich nämlich - vorerst durch Aichingers Leidenschaft für das Kino - eine neue Werkschiene. Die Tageszeitung Der Standard druckte ihr Viennale-Tagebuch und startete dann eine wöchentliche Kolumne Journal des Verschwindens, gefolgt von den Unglaubwürdigen Reisen (2001-03). Die Kolumnen erschienen später jeweils gesammelt in Buchform. Aufgrund eines Zerwürfnisses mit dem Standard erschien die seit 2003 geführte Kolumne Schattenspiele ab 2004 im "Spectrum" der Presse. 2006 veröffentlichte Aichinger ihr bislang letztes Buch, Subtexte, im Wiener Verlag Korrespondenzen. Der Umgang mit Sprache angesichts der Absurdität der Welt verbindet sich hier mit einer deutlichen Präferenz der Philosophie Emil Ciorans.

1995 wurde Ilse Aichinger der Große Österreichische Staatspreis für Literatur zugesprochen, der sich zu über 20 Literaturpreisen gesellt, die sie zwischen 1952 und 2002 erhalten hat.

Irene Fußl

 

Gesammelte Werke. 8 Bde. Hg. von Richard Reichensperger. Frankfurt/Main 1991. - Die größere Hoffnung. Roman. Frankfurt/Main 1948. - Der Gefesselte. Erzählungen 1. Frankfurt/Main 1954. - Auckland. Hörspiele. Frankfurt/Main 1954. - Zu keiner Stunde. Szenen und Dialoge. Frankfurt/Main 1957. - Eliza Eliza. Erzählungen 2. Frankfurt/Main 1965. - Schlechte Wörter. Frankfurt/Main 1976. - Verschenkter Rat. Gedichte. Frankfurt/Main 1978. - Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt/Main 1987. - Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. Frankfurt/Main 2001. - Kurzschlüsse. Wien. Hg. und mit einem Nachwort von Simone Fässler. Wien 2001. - Der Wolf und die sieben Geißlein. Hg. und mit einem Nachwort von Simone Fässler. Wien 2004. - Unglaubwürdige Reisen. Hg. von Simone Fässler. Frankfurt/Main 2005. - Subtexte. Wien 2006. - Es muss gar nichts bleiben. Interviews 1952-2005. Hg. und mit einem Nachwort von Simone Fässler. Wien 2011.

Bartsch, Kurt; Melzer, Gerhard (Hg.): Ilse Aichinger. Graz, Wien 1993. - Berbig, Roland (Hg.): Ilse Aichinger. München 2007. - Ders.; Markus, Hannah (Hg.): Ilse Aichinger (= Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens 9, 2010). - Cercignani, Fausto; Agazzi, Elena (Hg.): Studia austriaca. Ilse Aichinger. Mailand 1996. - Fässler, Simone: von Wien her, auf Wien hin. Ilse Aichingers "Geographie der eigenen Existenz". Wien 2011. - Fußl, Irene; Gürtler, Christa (Hg.): Ilse Aichinger: "Behutsam kämpfen". Würzburg 2012. - Görner, Rüdiger; Ivanovic, Christine; Shindo, Sugi (Hg.): Wort-Anker Werfen. Ilse Aichinger und England. Mit einem Erinnerungstext von Ruth Rix und dem Beginn einer Erzählung von Peter Waterhouse. Würzburg 2011. - Hermann, Britta; Thums, Barbara (Hg.): "Was wir einsetzen können, ist Nüchternheit". Zum Werk Ilse Aichingers. Würzburg 2001. - Kospach, Julia: Letzte Dinge. Ilse Aichinger und Friederike Mayröcker - zwei Gespräche über den Tod. Mit Assemblagen von Daniel Spoerri. Wien 2008. - Lindemann, Gisela: Ilse Aichinger. München 1988. - Lorenz, Dagmar C. G.: Ilse Aichinger. Königstein/Ts. 1981. - Moser, Samuel (Hg.): Ilse Aichinger. Leben und Werk. Aktualisierte und erw. Neuauflage. Frankfurt/Main 1995. - Moses, Stefan: Ilse Aichinger. Ein Bilderbuch. Mit Texten von Michael Krüger und Ilse Aichinger. Frankfurt/Main 2006. - Müller, Heidy Margrit (Hg.): Verschwiegenes Wortspiel. Kommentare zu den Werken Ilse Aichingers. Bielefeld 1999. - Ratmann, Annette: Spiegelungen, ein Tanz. Untersuchungen zur Prosa und Lyrik Ilse Aichingers. Würzburg 2001. - Rosenberger, Nicole: Poetik des Ungefügten. Zur Darstellung von Krieg und Verfolgung in Ilse Aichingers Roman Die größere Hoffnung. Wien 1998. - Thums, Barbara: "Den Ankünften nicht glauben wahr sind die Abschiede". Mythos, Gedächtnis und Mystik in der Prosa Ilse Aichingers. Freiburg/Br. 2000.