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Leo Perutz

Aufnahme um 1954; © Bildarchiv Austria / ÖNB, Wien

d. i. Leopold Perutz. Geb. 2.11.1882 in Prag, gest. 25.8.1957 in Bad Ischl.
Gehörte mit seinen virtuos komponierten fantastischen, zum Teil auch historischen Romanen zu den populärsten deutschsprachigen Autoren seiner Zeit.

Als ältestem von vier Kindern eines reichen jüdischen Textilunternehmers gelang es Leo Perutz trotz mehrmaligem Schulwechsel (Gymnasien in Prag, Krumau und Wien) nicht, die Matura abzulegen. Ab 1905 studierte er als außerordentlicher Hörer Mathematik und Volkswirtschaft an der Universität Wien, wechselte an die Technische Hochschule und beschäftigte sich speziell mit Wahrscheinlichkeitsrechnung, Statistik und Versicherungsmathematik. 1907 fand er eine Stelle bei den Assicurazioni Generali in Triest, im Jahr darauf wechselte er zur Anker-Versicherung nach Wien, für die er, mit Ausnahme der Kriegszeit, bis 1923 arbeiten sollte. Als Versicherungsmathematiker erwarb er sich mit der von ihm entwickelten "Perutzschen Ausgleichsformel" einen hervorragenden Ruf. Seinen Kriegsdienst leistete Perutz an der russischen Front, nach einer schweren Verwundung 1916 wurde er 1917 als Leutnant zum Kriegspressequartier versetzt. 1918 heiratete er Ida Weil.

Erste literarische Anerkennung erwarb Perutz mit den Romanen Die dritte Kugel (1915) und Das Mangobaumwunder (gemeinsam mit Paul Frank, 1916). Den Durchbruch bescherte ihm der später vielübersetzte phantastische Kriminalroman Der Meister des Jüngsten Tages (1923); die 1928 in Fortsetzungen in der "Berliner Illustrirten Zeitung" erschienene Geschichte Wohin rollst du, Äpfelchen... war ein großer kommerzieller Erfolg. Sein Freund Richard A. Bermann (1883-1939) charakterisierte Perutz' Geheimnis so: "Der erste Einfall ist manchmal phantastisch und irreal; alles andere ist Logik und Mathematik und warmblütige Realität." (Müller 2007, 178)
Perutz unternahm ausgedehnte Reisen, u. a. nach Skandinavien und in den Vorderen Orient. Er führte ein geselliges Leben, verkehrte in Wien vor allem im Café Herrenhof. Als seine Frau Ida bald nach der Geburt ihres dritten Kindes 1928 starb, war der Lebemann in seiner Existenz erschüttert. Im selben Jahr lernte Perutz in St. Wolfgang, wo er im Grandhotel zu wohnen pflegte, Alexander Lernet-Holenia beim Tennis kennen. In den kommenden Jahren verband die beiden nicht nur ihre Liebe zum Wassersport, Perutz und Lernet verwirklichten auch gemeinsame Schreibprojekte und übersetzten François Villon. Perutz lieferte Lernet die Fabel zu dessen Roman Jo und der Herr zu Pferde (1933). Zum Kreis in St. Wolfgang gehörten außerdem das Ehepaar Hugo (1895-1970) und Annie Lifczis (1902-1987), Emil Jannings (1884-1950), Ernst Toller (1893-1939), Anton Kuh (1890-1941) und Albert Ehrenstein (1886-1950).
Perutz veröffentlichte u. a. die historischen Romane St. Petri-Schnee (1933) und Der schwedische Reiter (1936). 1936 heiratete er Grete Humburger und emigrierte nach dem Anschluss mit seiner Familie nach Palästina, wo er sich in Tel Aviv niederließ. Heimisch fühlte er, der Antizionist, sich dort nie, das Salzkammergut blieb sein Bezugspunkt: "Tiberias am Kinnerethsee sieht aus wie Sankt Wolfgang" (Waldinger 2007). Und: "Der Winter hat hier keinen Schnee, sondern eher den Charakter eines St. Wolfganger Gewittertags, mit Straßenüberschwemmung, aber ohne Lernet." (Müller 2007, 296)

Perutz' Werk fand - auch dank Jorge Luis Borges (1899-1986) - einige Resonanz in Lateinamerika, geriet aber sonst in Vergessenheit. Nach dem Krieg fiel es ihm schwer, für seine neuen, für den Zeitgeschmack zu "jüdischen" Bücher Nachts unter der steinernen Brücke (1953), eine Hommage an das Prag des Rabbi Löw, und Der Judas des Leonardo (1959) einen Verlag zu finden. Ab 1950 verbrachte das Ehepaar Perutz den Sommer in Wien und St. Wolfgang, wo der Emigrant, wie Hilde Spiel sich erinnert, keinerlei Berührungsängste mit (Ex-)Nazis hatte: "Leo Perutz, anders als wir, nimmt ohne weiteres die ärztliche Betreuung durch den einstigen Ortsgruppenleiter Doktor Reiss in Anspruch, hat Mirko Jelusich und Weinheber ihre Vergangenheit großmütig verziehen und trifft sich hier und in Bad Aussee immer wieder mit Bruno Brehm." (Spiel 1990, 172)

Dieser einstige NS-Erfolgsautor sprach neben Lernet-Holenia auch an Perutz' Grab: 1957 hatte Perutz in Lernets Haus einen Herzinfarkt erlitten und war am 25.8. im Spital von Bad Ischl verstorben. Angeregt vom Grab eines Cafétiers in Tunis, hatte Perutz sich 1925 Ähnliches gewünscht: "Ein Grab im Kaffeehaus und rings um mich her der Rauch der Zigaretten, [...] das Klappern der Dominosteine und der Duft des schwarzen Kaffees." (Müller 2007, 201) Stattdessen fand er seine letzte Ruhestätte auf dem Friedhof von Bad Ischl.

Daniela Strigl

 

Wohin rollst du, Äpfelchen... Roman. Wien 1987 - Zwischen neun und neun. Roman. Wien 1993. - Die dritte Kugel. Roman. Wien 1994. - Der Judas des Leonardo. Roman. Wien 1994. - Turlupin. Roman. Wien 1995. - Nachts unter der steinernen Brücke. Roman. Wien 2000. - Der schwedische Reiter. Roman. Wien 2002. - Der Marques de Bolivar. Roman. Wien 2004. - Der Meister des Jüngsten Tages. Roman. Wien 2006. - St. Petri-Schnee. Roman. Wien 2007.

Forster, Brigitte; Müller, Hans-Harald (Hg.): Unruhige Träume, abgründige Konstruktionen. Dimensionen des Werks, Stationen der Wirkung. Beiträge zum zweiten Internationalen Perutz-Symposium. Wien 2002. - Keazor, Henry: "(...) als hätte man ihm einen Hieb vor die Stirne versetzt": "Sinnreiche Bildnisse" bei Leo Perutz. In: Matthias Bauer, Fabienne Liptay, Susanne Marschall (Hg.): Kunst und Kognition - Interdisziplinäre Studien zur Erzeugung von Bildsinn. München 2008. - Krieger, Arndt: "Mundus symbolicus" und semiotische Rekurrenz. Zum ironischen Spiel der Wirklichkeitssignale in den Romanen von Leo Perutz. Düsseldorf 2000. - Mandelartz, Michael: Poetik und Historik. Christliche und jüdische Geschichtstheologie in den Romanen von Leo Perutz. Tübingen 1992. - Müller, Hans-Harald: Leo Perutz. München 1992. - Ders.: Leo Perutz. Biographie. Wien 2007. - Neuhaus, Dietrich: Erinnerung und Schrecken. Die Einheit von Geschichte, Phantastik und Mathematik im Werk Leo Perutz. Bern u. a. 1984. - Peer, Alexander (Hg.): "Herr, erbarme dich meiner!" Leo Perutz. Leben und Werk. St. Wolfgang 2007. - Rauchenbacher, Marina: Wege der Narration. Subjekt und Welt in Texten von Leo Perutz und Alexander Lernet-Holenia. Wien 2006. - Siebauer, Ulrike: Leo Perutz - Ich kenne alles. Alles, nur nicht mich. Gerlingen 2000. - Spiel, Hilde: Welche Welt ist meine Welt? München 1990. - Stepina, Clemens K. (Hg.): Stationen. Texte zu Leben und Werk von Leo Perutz. St. Wolfgang 2008. - Waldinger, Ingeborg: Diskontinuität des Lebens. In: Wiener Zeitung, 25.8.2007 [zu Perutz' 50. Todestag].