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Ungenach

Cover der Erstausgabe 1968

Erzählung von Thomas Bernhard, erschienen 1968 in der edition suhrkamp (Frankfurt/Main).

In den Mitteilungen des Deutschen Germanisten Verbandes weist der Hamburger Rezensent im Juni 1969 auf Thomas Bernhards Erzählung "Ungemach" hin (Niszkiewicz 1969). Die geografische Entfernung zwischen der norddeutschen Großstadt und der kleinen Gemeinde im oberösterreichischen Hausruckviertel (Bezirk Vöcklabruck) mag diesen Lapsus ebenso entschuldigen wie die noch nicht so weit gediehene Vertrautheit mit der Lebenswelt des damals gerade erst berühmt werdenden Autors. Inzwischen ist die Verwandlung zahlreicher Orte aus der Umgebung von Bernhards Wohnsitz zu Schauplätzen seiner Literatur Allgemeingut, die "Landschaft des südlichen Oberösterreich" zu einem "literarischen ‚Bernhard-Land‘" (Mittermayer 2006, 52) geworden. In Ungenach selbst gibt es heute einen Thomas-Bernhard-Platz mit Informations-Tafeln zum Leben des Autors und Zitaten aus seiner einschlägigen Erzählung.

Ungenach ist freilich bei weitem nicht der einzige Ortsname in der gleichnamigen Erzählung - und einmal mehr geht es nicht um die konkreten oberösterreichischen Orte. Vielmehr steht es als eine Art "Österreich-Ungenach" (Kommentar, 239) für dieses Land und seine Geschichte. Das Ungenach der Erzählung ist eine riesige Liegenschaft, die nach dem plötzlichen Tod seines Vormunds (und dem schon vorausgegangenen Tod der Eltern und des Halbbruders Karl) Robert Zoiss als Erbe zugefallen ist. Die Erzählung setzt ein mit Notizen Roberts, der eher das "perspektivische Zentrum" (Mittermayer 1995, 55) der in ihrem Fragmentcharakter an Amras (1964) erinnernden Erzählung ist als ein herkömmlicher Ich-Erzähler. Robert macht auf dem Rückweg in die USA, wo er in Stanford Chemie unterrichtet, Zwischenstation bei seinem Onkel Zumbusch in Chur und sichtet dort u. a. die Notizen seines Halbbruders Karl, die ihm am Vortag der Notar Moro in Gmunden ausgehändigt hat. Zoiss hat Moro aufgesucht, um die "Auflösung, Abschenkung" (9) des Familienbesitzes zu besprechen: in einer Auflistung der der "Abschenkung teilhaftig werdende[n] Personen" (29) bzw. der ihnen zugeordneten Liegenschaften finden sich zahlreiche Namen aus der oberösterreichischen Geografie - vom Hongar über Rutzenmoos, Langbath, Vöcklaberg, Wankham, Peiskam, Brauching, Neukirchen, Hildprechting, Parz, Gmös, Altmünster, Traich, Föding, Kirchham, St. Konrad bis Unterach (29f.). Moros Monolog, in dem dieser wiederholt Aussagen des verstorbenen Vormunds zitiert, durchzieht vor allem den ersten Teil der Erzählung. Im zweiten bilden dann die "Papiere Karls" einen Schwerpunkt; sie setzen sich aus Notizen, Briefen und Briefentwürfen zusammen, immer wieder ist darin von seiner Zeit in Afrika die Rede. Dieses "sich selber oder den anderen abhörende Sprechen" lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf die "Art und Weise des Sprechens" und führt ihn dazu, "in der Sprache die geschichtlichen Erschütterungen mitzudenken" (Kommentar, 236f.).
Von Ungenach aus führen zahlreiche Verbindungslinien in andere Gebiete der Bernhard-Welt, die hier nur angedeutet werden können: zu anderen Werken, wie etwa dem "Wolfsegg-Komplex" von Der Italiener bis Auslöschung, Verstörung oder dem "Hirn-Projekt" (vgl. ebd., 232ff. u. Belletini 2003); zu thematischen Zentren, z. B. der Lösung vom "Herkunftskomplex"; zu den Entstehungsbedingungen, von den Schreiborten (Nathal und Abbazia/Opatija/Lovran), dem Skandal bei der Staatspreis-Verleihung (vgl. Bernhard 2011, 69f. u. 308f.) bis zu den Auseinandersetzungen mit seinem Verleger (vgl. Briefwechsel 2009, 76ff.); zur Biografie, etwa dem Plan, als Entwicklungshelfer nach Ghana zu gehen; zur Zeitgeschichte, von der Auseinandersetzung mit dem habsburgischen Mythos, der Studentenrevolte bis zum problematischen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Österreichs.

Martin Huber

 

Ungenach. Erzählung. In: Erzählungen II. Hg. von Hans Höller und Manfred Mittermayer. Frankfurt/Main 2006, 7-71 (Kommentar, 231-244) (= Thomas Bernhard: Werke. Hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler, Bd. 12). - Thomas Bernhard-Siegfried Unseld. Der Briefwechsel. Hg. von Raimund Fellinger, Martin Huber und Julia Ketterer. Frankfurt/Main 2009. (= Briefwechsel) - Bernhard, Thomas: Der Wahrheit auf der Spur. Reden, Leserbriefe, Interviews, Feuilletons. Hg. von Wolfram Bayer, Raimund Fellinger und Martin Huber. Berlin 2011.

Belletini, Lorenzo: Thomas Bernhards Hirn-Projekt als Teil des Verstörungs-Nachlasses. Textgenetische Reflexionen zu einem Ur-Roman. In: Thomas Bernhard Jahrbuch 2003, 123-140. - Ebner, Jeannie: Was mir zu "Ungenach" einfällt. In: Literatur und Kritik 4 (1969), H. 34, 243-245. - Gamper, Herbert: "Eine durchinstrumentierte Partitur Wahnsinn". In: Über Thomas Bernhard. Hg. von Anneliese Botond. Frankfurt/Main 1970, 130-136. - Höller, Hans: Thomas Bernhard. Reinbek bei Hamburg 1993. - Jenny, Urs: Österreichische Agonie. In: Über Thomas Bernhard, a. a. O., 107-110. - Mittermayer, Manfred: Thomas Bernhard. Stuttgart, Weimar Metzler 1995. - Ders.: Thomas Bernhard. Frankfurt/Main 2006. - Niszkiewicz, Heinz: Taschenbücher für den Deutschunterricht. Thomas Bernhard; Ungemach [sic]. In: Mitteilungen des Deutschen Germanisten Verbandes, 16. Jg., Nr. 2, Juni 1969. - Schmidt-Dengler, Wendelin: "Der Tod als Naturwissenschaft neben dem Leben, Leben". Zu Bernhards Sprache der Ausschließlichkeit. In: Ders.: Der Übertreibungskünstler. Zu Thomas Bernhard. Hg. von Martin Huber und Wolfgang Straub. 4., erw. Auflage. Wien 2010, 11-18.