Bei seinen Auftritten, und auch wenn er im Publikum saß, pflegte Christian Loidl von Zeit zu Zeit einen Schrei auszustoßen. Der Schrei erfüllte den Raum, erschreckte jene, die ihn zum ersten Mal hörten, und war frei nicht nur von Sinn, sondern auch von jeder Funktion. Der Literaturkritiker Hermann Schlösser bezeichnete Loidls Schrei als "Juchzer". Von Schlösser stammt auch der literarische Hinweis auf Howl, das große Gedicht von Allen Ginsberg, das dem amerikanischen Dichter in den 1950er-Jahren einen Gerichtsprozess (wegen Obszönität) eintrug, der ihn schließlich berühmt machte (vgl. Schlösser 2007, 54f.). Loidls Schrei ist kein Geheul, aber bei seinen Auftritten kam es vor, dass er Teile seiner Gedichte als Geheul interpretierte. Oder als Geraune, Gekrächz, Gesumme, Gesang. Als Hauchen. Als Verstummen. In erster Linie ging es ihm jedoch darum, den Worten zu einem starken Klang zu verhelfen. Der Dichter diente den Worten als Klangkörper. Er ließ sie aufblühen und schweben und verschwinden. Die körperliche, stimmliche, auch mimische und gestische Performance gehörte wesentlich zu Loidls Dichterleben, das er mit seltener Unbedingtheit führte.
Loidl studierte in Wien Germanistik und Psychologie, 1984 legte er eine Dissertation zum Werk der österreichischen Lyrikerin Doris Mühringer (1920-2009) vor. Neben journalistischen Beiträgen für Die Presse und für den Radiosender Ö1 (ORF) veröffentlichte er in Literaturzeitschriften seine ersten literarischen Arbeiten und trat bei Lesungen auf. 1980 erlebte er in Wien Allen Ginsberg bei einem Auftritt, der für den jungen Autor zum Schlüsselerlebnis wurde. Er dachte damals: "Das ist meins. Ich muß eine Sprache entwickeln, die im Körper daheim ist und von da aus fliegt." (Loidl 2007, 233) Diesem Programm sollte er sich zeitlebens widmen. Er legte dabei eine Geschicklichkeit an den Tag, die es ihm erlaubte, ureigene, lokal verwurzelte Sprachformen wiederzugewinnen, aber auch jenseits des Rationalen zu schürfen, vor allem in den Gefilden von Traum und Halluzination, in Übergangszonen zwischen Reflexion und Unterbewusstsein, und zugleich Materialien aus gesellschaftlichen Diskursen einzubeziehen, ja, zu dekonstruieren. In seinen Anmerkungen über Gedichte und Buddhismus - mit diesem, der fernöstlichen Philosophie sowie Meditation und bewusstseinserweiternden Halluzinogenen beschäftigte er sich ausführlich - nennt Loidl Ernst Jandl, "der auf seine Art ebenfalls ein großer Klangkörper war", in einem Atemzug mit Ginsberg. Was aber die Schrift betrifft, so steht Loidl vielleicht H.C. Artmann näher, dessen Surrealismus und Humor. Wenn es in der österreichischen Literatur in den letzten zwei Jahrzehnten des 20. Jh. einen Autor gab, der den Geist der "Wiener Gruppe" und ihrer Weggefährten beerbte und transformierte, dann Christian Loidl. Nach dem Tod H.C. Artmanns im Dezember 2000 übte sich Loidl in poetischer Trauerarbeit, dunkel und augenzwinkernd, ganz im Geist des Vorbilds. Das Ergebnis war der Gedichtband schwarzer rotz, ziemlich genau ein Jahr später veröffentlicht, nachdem Loidl selbst durch einen Fenstersturz aus seiner Wiener Wohnung ums Leben gekommen war. "hast ein loch gerissen in meine vernunft // mit einer masse an löchern vielleicht daß ich dich finge" (Loidl 2005, 8f.), heißt es in einem dieser Gedichte.
Christian Loidl bezeichnete sich zuweilen als Luftpoeten; einem seiner frühen Gedichtzyklen gab er den Titel luftklang. Das Wort, im Deutschen scheinbar ein Neologismus, erinnert an die poesía aerea, die in einem Roman von Roberto Bolaño der Flugkünstler Carlos Wieder in die Luft schreibt, das Schöne und das Schreckliche zusammenschließend, wie es auch Rainer Maria Rilke vorschwebte. In der Poetik, die Christian Loidl durch Ginsberg und während seiner Aufenthalte an der Jack Kerouac School of Disembodied Poetics in Boulder, Colorado, vermittelt wurde, kann anstelle des Metrums "der Gedankenfluß selber oder der Atem das Versmaß sein." (Loidl 2007, 232) Neben Ginsberg beeinflussten William Bourroughs, Jack Kerouac, Anne Waldman und der Filmemacher Harry Smith Loidls Arbeiten maßgeblich. 1992 war er Mitbegründer der "Schule für Dichtung" in Wien und trat ab da vermehrt mit Performances u.a. gemeinsam mit Musikern bei internationalen Literaturfestivals und Lesungen auf, was ihn über Österreich hinaus bekannt machte. Darüber hinaus übersetzte er aus dem Amerikanischen.
Das Dunkel der Vergangenheit, der eigenen Herkunft, des ursprünglichen Nichts sind Zonen, die Loidl immer wieder, insbesondere in kleinstkompetenzen (2000), auslotet; im Buch ebenso wie in der musikalisch-literarischen stimmlichen Realisierung mit dem Akkordeonspieler Otto Lechner. Loidl schürft auch hier an den Wurzeln der Sprache, seiner Sprache, die mündlich ist und ihm von den Großeltern und Urgroßeltern übermittelt wurde. In diesem kleinen quadratischen Buch begegnen, überlagern und widersprechen sich Redeweisen und Ausdrucksmuster seiner oberösterreichischen Herkunftsgegend, weniger der städtischen als der ländlich-gebirgigen, mit bürokratischen, schulischen, abstrakten, um deren Verständnis wir den Protagonisten - der Dichter als kleiner Bub - ringen hören und sehen, wobei anstelle des Verstehens oft ein sprachliches Spiel tritt, das die ernsten Wörter entstellt: zur Kenntlichkeit, aber auch zur poetischen Seltsamkeit, die darüber hinaus keinen Sinn beanspruchen muss. "ist ein sehr fantasievoller bub. Wird sich vielleicht ein bisschen mehr anpassen lernen müssen", hat dazu das Schulzeugnis zu sagen. Doch der "furchtbar gescheite kleine halunke" (Loidl 2000, 72) hat sich nicht angepasst, sondern mit seinen Poetisierungen weitergemacht, ebenso wie mit seiner Kritik der Verhärtungen, die die Gesellschaft für unabdingbar hält. kleinstkompetenzen ist ein spätes Erzeugnis jener Lautdichtung, die Jandl, Artmann und Konsorten zur Blüte brachten, weit jenseits aller literaturpolitischen Fragen nach Avantgarde und poetischem Konservativismus. Es ist aber auch ein Stück visueller Poesie, vor allem gegen Ende, wo die weiße Leere der quadratischen Blätter die Wörter umspielt wie das Schweigen die Töne, wie das Geheul die sinnbildenden Sätze.
Leopold Federmair
weiße rede. Wien 1990. - falsche prophezeihungen. Klagenfurt 1994 (auch als Audio-CD). - Wiener Mysterien. Klagenfurt 1995. - farnblüte. Klagenfurt 1996. - pupille. Wien 1998. - icht. Wien 1999. - kleinstkompetenzen. erinnerungen aus einer geheimen kindheit. Wien 2000 (auch als Audio-CD gem. mit Otto Lechner). - (gem. mit Joseph Kühn:) schwarzer rotz. gedichte und messerschnitte für h.c. artmann. Wien 2002. - Nachtanhaltspunkte. Haikus. Hg. von Leopold Federmair. Wien 2005. - Das Echo in Bewegung setzen. Über Buddhismus und Gedichte. In: Christian Loidl (1957-2001). Beiträge zu Leben und Werk des Dichters. Hg. von Leopold Federmair und Helmut Neundlinger. Linz 2007, 228-236. - Schale aus Schlaf. Gedichte aus dem Nachlass. Graz 2008. - von jetzt bis jetzt. Haikus. Hg. von Muryel Derion u.a. Wien 2011. - Gesammelte Gedichte. Wien 2011.
Audio-CDs: bei uns dahoam. Zaubersprüche und -lieder. Wien o. J. - wir müssen leise sein wie pfirsiche. Sprechgedichte. Wien 1990. - (gem. mit Mariona Cizek und Wolfgang Musil:) Christi Austern. Klagenfurt 1994.
Christian Loidl (1957-2001). Beiträge zu Leben und Werk des Dichters. Hg. von Leopold Federmair und Helmut Neundlinger. Linz 2007. - Humberger, Stephan: Christian Loidl. Eine Auseinandersetzung mit seinem lyrischen Werk. Dipl.-Arb. Univ. Wien 2005. - Schlösser, Hermann: Diskrepanzen zwischen Schrift und Stimme. Christian Loidl als Rezitator seines Poems "kleinstkompetenzen". In: Christian Loidl (1957-2001). Beiträge zu Leben und Werk des Dichters. Hg. von Leopold Federmair und Helmut Neundlinger. Linz 2007, 40-56. - Widder, Bernhard: Schnarrende Schnäbel im Kahlschlag. Annäherungen an das Werk des vielseitigen Dichters Christian Loidl (1957-2001). In: Franz Josef Czernin, Manfred Müller (Hg.): Alte Meister, Schufte, Außenseiter. Reflexionen über österreichische Literatur nach 1945. Wien 2005, 191-204.