In der Nähe des Aspermeierhofs, wo Baron Risach residiert, der milde und aufgeklärte Herrscher über die Utopie des Nachsommer, steht ein Kirschbaum, "der größte Baum des Gartens vielleicht der größte Obstbaum der Gegend." Eine Holzbank läuft um den Baum, und vier Tischchen weisen in die vier Weltgegenden, und man hat einen freien Blick "fast nach allen vier Richtungen des Himmels." Es kann kaum ein Zweifel bestehen, dass das Vorbild für diesen literarischen Ort der Gustermaierberg in der Nähe von Kremsmünster ist, und dort wieder jene Stelle auf der Hügelkuppe, wo das "Gasthaus zum Baum mitten in der Welt" steht. Der Baum wurde 1930 gefällt, aber das Gasthaus trägt noch immer diesen Namen, und wenn man dort im Gastgarten sitzt, bei einem Schweinsbraten und einem Seidel Bier, kann man tatsächlich die "ganze Gebirgskette im Süden" sehen, die Kremsmauer, den Großen und den Kleinen Priel und schließlich den für uns emblematischen Traunstein, den die Bauersleute meiner Familie abends mit gerunzelter Stirn zu betrachten pflegten, um dann zu sagen: "Der Traunstein hat ein Hütchen auf", "a Hiadl" im oberösterreichischen Dialekt, was bedeutete, dass es am nächsten Tag regnen würde.
Der Blick geht "fast nach allen Richtungen": ein Detail in Adalbert Stifters Beschreibung, das wiederum der Wirklichkeit entspricht, denn in östlicher Richtung liegt Kremsegg (Stifter erwähnt ein "Landegg"), dahinter dann Rohr (bei Stifter "Rohrberg") und schließlich Bad Hall. Ein Kloster wird im Roman nicht erwähnt; die wirtschaftliche, geistliche, pädagogische und kulturelle Rolle, die das Benediktinerstift Kremsmünster bis heute spielt, projiziert Stifter auf Risach und seine vorbildlichen Unternehmungen. Im Nachsommer gibt es ein Wechselspiel von Rand und Mitte, denn einerseits hat sich Risach aus der Großstadt, die damals noch ein europäisches Reich dirigierte, in die ferne Provinz zurückgezogen, um hier seine alternativen Projekte verwirklichen zu können, andererseits liegt Wien ja selbst am Rand des Staatsgebiets, und die geografische Mitte des in der Mitte von Mitteleuropa liegenden Landes Österreich ist das oberösterreichische Voralpenland, also die Gegend rings um den Baum mitten in der Welt. Und die Bewegungsform des jungen Heinrich Drendorf, der zum Schüler Risachs wird, ist einerseits das Hin und Her zwischen Großstadt (im Winter) und Provinz (in den schönen Jahreszeiten), andererseits aber auch das Ziehen von immer weiteren Kreisen, ausgehend von einer gesicherten Mitte. So eignet man sich die Welt an, und auf gleiche Weise entfaltet das Vorbild Risach seine pädagogische Wirkung: langsam, aber sicher werden die umliegenden Gehöfte, Ansiedlungen, Ortschaften und schließlich das ganze Land die nachsommerlichen Neuerungen für einen neuen Frühling der Menschheit annehmen.
In letzter Zeit - nun ja, eigentlich sind es die "letzten Jahrzehnte", denn die Zeit, die ich meine, wird bald schon vergangen sein - in letzter Zeit kam es in Mode, von den Rändern zu sprechen, nachdem die Nachkriegszeit sich damit begnügt hatte, den Verlust der Mitte zu beklagen. Die Bemühungen eines Karl-Markus Gauß, dessen Vorfahren aus einem der Randgebiete der ehemaligen Monarchie zugezogen waren, die Wirklichkeiten und kulturellen Leistungen eben dieser Gebiete sichtbar zu machen, sind zweifellos verdienstvoll. Sie setzen allerdings das Fortbestehen einer Mitte voraus, in welcher die Mitteilungen gesammelt und angeordnet werden. Zwar wurden andere Modelle entwickelt, etwa nach dem Bild des Rhizoms, das sich ohne Zentrum und Peripherie ausbreitet, doch in Wirklichkeit denken und ordnen wir nach wie vor mit Hilfe der alten Polarisierung. Für mich war es überraschend, als Michel Houellebecq seine Bücher mit einem topografischen Siegel zu versehen begann: "au milieu du monde", in der Mitte der Welt. Houellebecq bezieht sich damit zunächst auf eine eher abgelegene Insel, Lanzarote, später auch auf Thailand; der Langzeitsurrealist Fernando Arrabal vermutet, dieser Sinn für die Mitte komme daher, dass Houellebecq auf einer Insel geboren ist, auf La Réunion. Tatsächlich ist eine Insel etwas ganz anderes als eine Hügellandschaft oder ein Bergrücken ... Es sei denn, man betrachtet das Meer als Prototyp einer weiten Umgebung und die Insel als Erhebung in ihrer Mitte.
Andererseits schreibt Houellebecq und schreiben wir alle heute unsere Erzählungen unter den Bedingungen der Globalisierung. Wenn jedes Phänomen global geworden ist, befindet es sich zwangsläufig in der Mitte, es ist in dieser Mitte gefangen wie das Individuum in der Großstadt, dem die Welt unerreichbar geworden ist, obwohl es von dieser an allen Orten zu allen Zeitpunkten bedrängt wird. Dasselbe gilt für die virtuelle Welt, die uns den Zugang zu allen Extremen und Extremitäten gewährt und uns gleichzeitig die Teilnahme verweigert. Wir sind in der Mitte, aber kein Teil des Ganzen. Ein bedrohlicher Gedanke, eine bedrohliche Erfahrung, die mir dennoch trostreich erscheint, zumal sich hinter den Klagen über die öde Mitte alte romantische Verschmelzungssehnsüchte verbergen, die niemals erfüllbar sein werden, auch nicht durch den Einsatz von genetischen Manipulationstechniken. Trostreich, weil alles auf mich verweist und alles von mir abhängt. Die Kugel besitzt unter den Raumdingen die vollkommene Form. Das Dasein kann und soll mir genügen, aus dem einfachen Grund, weil ich es bin, der die Umgebung wahrnimmt. Diese Empfindung hatte ich eines Tages, als ich aus dem Fenster eines billigen Hotels im Zentrum der Stadt Mexiko aus dem fünften Stock zuerst auf die Fassade der Kathedrale am Ende der Straße blickte und dann nach unten auf die obdachlose Familie, die sich dort mit Hilfe von Kartons eine notdürftige und provisorische Bleibe verschafft hatte. Viele Häuser des Zentrums der Stadt sind verlassen, die Reichen haben sich an der Peripherie angesiedelt.
Ich selbst bin an einem ländlichen Verkehrsknotenpunkt aufgewachsen, wenige Kilometer von Kremsmünster entfernt. Schon im Mittelalter ging dort, in Sattledt, eine Handelsstraße durch, zum Pyhrn-Pass und dann weiter, stelle ich mir vor, nach Italien. Meine Vorfahren besaßen ein Gasthaus inmitten der Einöde, wo die Reisenden die Pferde wechselten. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde geplant, den Osten durch ein System von Autobahnen verkehrstechnisch zu erschließen. Etwas außerhalb von Sattledt, nahe einer Ortschaft, die Linden heißt, kann man noch heute die Stützen aus Granitblöcken bewundern, die einer Autobahnbrücke dienen sollten. Die Brücke wurde nach dem Krieg wenige Kilometer von diesem idyllischen und traurigen Ort entfernt errichtet, und da mein Vater von den Plänen Wind bekam, baute er an der Autobahnabfahrt ein Gasthaus mit dem zukunftsfrohen Namen Sonnenhof, das zuerst aus wenigen Räumen bestand und dann nach und nach, im gleichen Rhythmus wie ich selbst, größer wurde. Als ich meine ersten längeren Spaziergänge mit der Großmutter machte, war die Autobahn noch nicht eröffnet. Meine schönsten Kindheitserinnerungen werden nicht durch den Duft von Teegebäck ausgelöst, sondern durch den von Benzin: gegenüber vom Sonnenhof war eine Tankstelle mit einer Reparaturwerkstatt, dort trieben wir Kinder uns mit Vorliebe herum.
Mag sein, dass die Globalisierung, also das zeitlich-räumliche Erschließen und Gleichschalten der Welt, eine Spätform imperialistischer Gelüste ist. Heinrich Drendorf, der in aller Unschuld auszieht, um sich bis hin zu den Meeresgestaden schrittweise alles anzueignen, was unter Gottes Himmel besteht; die völkischen Zivilisierungsprogramme der Nazis, die am Ende Tod und Verwüstung brachten; der Volkswagen zur Beglückung der Kleinfamilie, heute längst Realität geworden - eine Realität, die jährlich zahllose Todesopfer fordert. Unser Wahlonkel besaß einen schwarzen Käfer, den er auf dem damals noch unasphaltierten, niemals gefüllten, geradezu ein Gefühl von Freiheit vermittelnden Parkplatz abstellte (auch die Autobahn der siebziger Jahre habe ich als Abenteuergelände in Erinnerung). Der Sonnenhof steht heute nicht mehr. Die Verkehrsknoten sind so zahlreich geworden, dass jene Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts verschwunden, um nicht zu sagen: an den Rand gedrängt worden ist. Keines der acht Kinder der Familie wollte den Betrieb übernehmen: sie schielten auf eine andere, großstädtische, geistige Mitte. Eine Zeitlang, nachdem er in Paris den Köchen auf die Finger geschaut hatte, überlegte einer von uns, den Betrieb umzugestalten. Er ließ einen Aufkleber drucken mit Strahlen und einer Sonne in der Mitte, die das Gasthaus symbolisierte. Günstig für Begegnungen, Seminare, Ruhepausen. Woher man auch kam, der Sonnenhof lag in der Mitte. Immer noch liegen Bündel dieser rot-gelben Visitenkarten in einer Schublade in einem Haus unweit des Orts, wo der Sonnenhof stand.
Leopold Federmair
Federmair, Leopold: Bitumen. In: Monument und Zufall, Klagenfurt 1994. - Ders.: Lob der Entfremdung. In: Flucht und Erhebung, Wien 1997.