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Internat in L.

Cover der Ausgabe, 1986

Roman von Franz Rieger, erschienen 1986 im Styria Verlag (Graz).

Hatte Norbert Mecklenburg mit Blick auf Franz Riegers erste vier Romane von "Provinzprosa" (Mecklenburg 1982, 43) gesprochen, bezog er sich damit - keineswegs abwertend - auf die Schauplätze und Topografie, in der sich die Figuren des in OÖ. geborenen Schriftstellers bewegen und (vergeblich) zurechtzufinden suchen. Konkret auf einen Raum, der oftmals gekennzeichnet ist "von Beobachtern" und "ein[em] lückenlose[n] System der Kontrolle" (ebd.,  45). In Paß (1973) beispielsweise, Riegers erstem Roman, offenbart sich die ‚Provinz‘ im abgelegenen Dorf St. Sixt, in Schattenschweigen oder Hartheim  (1985) in der Gemeinde Alkoven und dem dortigen Renaissanceschloss, das zur Tötungsanstalt der Nationalsozialisten wurde. Im 1986 bei Styria erschienenen, jedoch bereits 1981/82 begonnen, "zweifellos autobiografisch" (so Rieger auf einem undatierten Notizzettel, der sich in seinem Nachlass unter den Korrespondenzen mit dem Styria-Verlag findet) grundierten Werk Internat in L. Darstellung eines empfindsamen Charakters verlagert sich der Schauplatz des Geschehens vom Land an den Rand der Stadt - in das Linzer bischöfliche Knabenseminar Petrinum am Fuße des Pöstlingbergs, das dem Zögling Albert, der Hauptfigur des Textes, zur peinigenden Heimstätte wird.

Mit der Aufnahme ins Internat und dem damit einhergehenden Abschied aus dem vertrauten familiären Umfeld vollzieht sich ein Übergang, der sich unwiderruflich als emotional prägende Erfahrung in die Biografie des jungen Schülers einschreibt. Sein Alltag ist fortan bestimmt von einem System, in das er sich nicht integrieren kann, von Regeln, die das katholische Umfeld und die strenge Internatspädagogik vorgeben. Der Ordnung des Hauses ist alles unterworfen, Reden und Schweigen, Lernen, Gefühle und anderes mehr. Vollstreckt wird sie vom Präfekten Teuschl, der die Briefe seiner Zöglinge zensiert, auf ein gut funktionierendes Spitzelwesen zurückgreifen kann und "hinter jeder menschlichen Äußerung her [war], die seinen Verdacht erregte" (83). Nur einige wenige Personen und Tätigkeiten ermöglichen Albert das kurzzeitige Ausblenden des quälenden Alltags: Der Unterricht beim Musiklehrer Baumann, der Umgang mit seinem Freund Albin oder die Flucht ins Krankenzimmer zu einer warmherzigen Schwester. Die Eltern erfahren von alledem nichts. Mit dem Vater geht der Junge an den Besuchstagen in die Stadt, "antwortet[] auf die Fragen" (150) die ihm gestellt werden, klagt aber nicht über sein Leid, sodass sich am Abend erneut "nichts geändert" (151) hat. Das Ende seines Martyriums ist schließlich ein von außen bestimmtes. Es ist der Umbruch von einem System der Kontrolle und Unterdrückung zu einem anderen. Als die Schüler an einem Märztag im Jahr 1938 beim Morgenstudium in der Klasse sitzen, teilt der Regens den Einmarsch Hitlers in Österreich mit. Teuschl und alles wofür er eingestanden war, ist entmachtet - die Schule wird geschlossen, der Roman ist beendet.

Mit Internat in L. arbeitet der lange Zeit "unbemerkt [...] schreibende[]" (Bäcker 1973, 7) Rieger, der selbst bis zur tatsächlichen Schließung des Petrinums 1938 Zögling am Linzer Knabenseminar war, konsequent an seiner "Anatomie der jüngeren Vergangenheit Oberösterreichs" (Sturm 1986), zu der auch das ein Jahr zuvor erschienene Schattenschweigen oder Hartheim zählt. Seine Sprache bleibt dabei immer klar und "dinglich" und ist "nicht interpretierend ausstaffiert" (Bäcker 1973, 7), gekennzeichnet von einer "Kühnheit der Verknappung" (ebd., 8). Tröstlich ist Riegers Internatsroman (wie viele andere seiner Texte) nur vordergründig nicht; zwar muss sich Albert seinem Schicksal fügen, er hält ihm jedoch stand. Das Internat hatte ihn von einer "Welt [...] entwöhnt" (72), in der zu leben einem Kind angemessen und gerecht wäre, "abtöten" (72) konnte sie diese in ihm aber letztlich nicht.

Georg Hofer / Petra-Maria Dallinger

 

Franz Rieger: Internat in L. Darstellung eines empfindsamen Charakters. Graz 1986.

Bäcker, Heimrad: Zu Franz Rieger. In: OÖ. Kulturbericht, 1973, F. 2, 7-8.. -Mecklenburg, Norbert: "Die Krankheit des Dorfes". Über den Erzähler Franz Rieger. In: Modern Austrian Literature 12 (1982), Nr. 2, 43-56.- Pittertschatscher, Alfred (Hg.): Franz Rieger. Linz o. J. [1993] (= Die Rampe 1993. Porträt); darin auf S. 81 eine Auflistung der zu Internat in L. erschienenen Besprechungen. - Ders.: Die Wirklichkeit ist mir nur Ausgangspunkt... Bruchstücke, Gesprächssplitter, Skizzen aus einem spärlich redigierten, vierstündigen Gespräch mit Franz Rieger. In: Ders. (Hg.): Franz Rieger, a. a. O., 11-25. - Sturm, Helmut: Von den Leiden eines Zöglings. In: Salzburger Nachrichten, 13./14.9.1986.