Wilbirg (geb. um 1230) lebte einundvierzig Jahre im Kloster St. Florian als Inkluse - also in einer an die Kirche angebauten Zelle eingeschlossen, ganz der Askese und dem Gebet hingegeben -, bis sie am 11. Dezember 1289 verstarb. Einwik Weizlan, der seit seiner Priesterweihe 1272 Wilbirgs Beichtvater war, verfasste ihre Lebensbeschreibung, die Vita Wilbirgis. Dabei handelt es sich nicht um eine Biografie im heutigen Sinn, sondern vielmehr um einen hagiografischen Text, in dem es nicht um die Vermittlung von Fakten aus dem Leben Wilbirgs geht, sondern um die Beschreibung ihres Weges zur Heiligkeit. Diese ist nach den für ein heiligengemäßes Leben gebräuchlichen Topoi gestaltet.
Die Vita schildert zunächst kurz die Herkunft, Kindheit und Jugend Wilbirgs (Kap. 3-24), wobei besonders auf ihre Pilgerreise nach Santiago di Compostela eingegangen wird (Kap. 19-24). Den folgenden Großteil des Textes nimmt die Schilderung des Lebens Wilbirgs als Inkluse ein: Wunderberichte, Berichte über Anfechtungen des Teufels, Kämpfe um den Erhalt der Jungfräulichkeit. Wir erfahren, wie Wilbirg allen Anfechtungen widerstand und lesen Berichte über Visionen und mystische Erlebnisse (Kap. 25-113); in den Kapiteln 114-116 schildert Einwik den Tod und das Begräbnis Wilbirgs.
Das Werk zeichnet sich durch seinen hohen Quellenwert aus und war wohl zu Unrecht relativ lange fast vergessen. Die Vita stellt nämlich eine interessante (lokal)historische Quelle dar: Sie bietet wichtige Informationen zur Klostergeschichte - wie zum Wiederaufbau der Kirche nach dem Brand von 1235 -, interpretiert die Frühgeschichte des Christentums in Österreich gemäß der sogenannten Lorcher Tradition und spiegelt in der Schilderung des Kampfes Ottokars (um 1230-1278) gegen Rudolf von Habsburg (1218-1291) eine auffallend stark antihabsburgische Haltung wider (Kap. 73, 91-94). Nicht zuletzt treten uns Persönlichkeiten wie Gutolf von Heiligenkreuz (gest. um 1300; Kap. 30, 57, 58, 85, 105) oder Agnes von Böhmen (ca. 1211-1282; Kap. 73) entgegen. Kulturgeschichtlich aufschlussreich ist die Vita nicht nur in den Schilderungen der damaligen Wallfahrtspraxis, sondern sie bietet auch viele Informationen über das Leben im Kloster sowie den Umgang mit religiösen Praktiken und Bräuchen.
Verfasst wurde die Vita in den Jahren nach dem Tod Wilbirgs 1289. Einwik arbeitete daran bis zu seinem Tod im Jahre 1313. Durch das Auffinden von Pergamentblättern in der Stiftsbibliothek, auf denen einzelne Teile der Vita mit Glossen und Korrekturnoten gefunden wurden, sowie durch eine eingehende stilistische Analyse des Textes konnte ein aufschlussreicher Blick in die Werkstatt des Einwik und in die Entstehungsgeschichte der Vita gemacht werden: Dabei konnte gezeigt werden, dass der Autor seinen Text mit künstlerischen Ansprüchen komponiert und gestaltet hat.
Überliefert ist die Vita in fünf Handschriften, von denen zwei aus dem 14., zwei aus dem 15. und eine aus dem 17. Jh. stammen. Ein Erstdruck des Werkes wurde im Jahr 1725 von Bernhard Pez besorgt. Die Wirkung der Vita zeigt sich nicht so groß wie von Einwik erhofft, wobei man am Beginn des 18. Jh. eine gewisse Wilbirg-Renaissance in St. Florian erkennen kann: 1722 übersetzt ein St. Florianer Chorherr die Vita erstmals ins Deutsche - vielleicht anlässlich der damals unternommenen Neugestaltung der Krypta -, 1726 erscheint ein anonym verfasster Auszug in deutscher Sprache. Heute liegt die Vita in einer modernen textkritischen Ausgabe und in deutscher Übersetzung vor.
Die Intention Einwiks zur Abfassung der Vita Wilbirgis war, Wilbirg neben dem Hl. Florian zu einer Lokalheiligen des Stiftes zu machen, was nie wirklich gelang. Wilbirgs Grab befindet sich in der Krypta der Stiftskirche, das eindrucksvolle Memento an Wilbirg von Herbert Friedl in der Stiftskirche weist seit 2000 auf diese interessante Frau hin.
Lukas Sainitzer
Textausgaben und Vita Wilbirgis. Hg. von Hieronymus Pez. In: Scriptore rerum Austriacarum 1, 19-34. - Triumphus castitatis seu acta et mirabilis vita venerabilis Wilbirgis virginis. Hg. von Bernhard Pez. Augsburg 1715. - Die Vita Wilbirgis des Einwik Weizlan. Kritische Edition und Übersetzung. Hg. von Lukas Sainitzer. Linz 1999. - [Übersetzungen und Bearbeitungen (auch Auszüge):] Anonymus: Die gute Wilbirg oder Lebensbeschreibung der gottseligen Jungfrau Wilburg. Linz 1726. - Schiffmann, Konrad: Ein altes Bilderbuch. Kulturgeschichtliche Skizzen. Linz 1908, 104-165. - Bühler, Johannes: Klosterleben im Mittelalter. Mit zahlreichen Abbildungen. Hg. von Georg Narcisz. Neuauflage des Werkes von 1923. Frankfurt/Main 1989.
Etzlstorfer, Josef: Wilbirg - Inklusin von St. Florian. Dipl.-Arb. Universität Salzburg 1985. - Mühlbacher, Engelbert: Die literarischen Leistungen des Stiftes St. Florian bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Innsbruck 1905. - Rehberger, Karl: Einwik Weizlan von St. Florian. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters - Verfasserlexikon. 2. neu bearb. Aufl. Hg. von Gerhard Comitis und Wigand Gerstenberg. Berlin 1980, Bd. 2, 430-432. - Sainitzer, Lukas: Studien zur Vita Wilbirgis. Dipl.-Arb. Universität Wien 1990. - Stülz, Jodok: Geschichte des regulierten Chorherrenstiftes St. Florian. Ein Beitrag zur Geschichte des Landes ob der Enns. Linz 1835. - Ders.: Die Klausnerin Wilbirg in St. Florian. In: Theologisch-praktische Quartalschrift 2 (1849), 70-114. - Tschulik, Walter: Wilbirg und Agnes Blannbekin. Ein Beitrag zur Geschichte christlich-mittelalterlicher Mystik in Österreich. Dissertation Wien 1925. - Zauner, Alois: Wilbirg. In: Lexikon für Theologie und Kirche 10 (1965), 1122. - Ders. (Hg.): Die Kirchweihchronik des Stiftes St. Florian. In: Mitteilungen des oberösterreichischen Landesarchivs 10 (1971), 51-122.