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Alfred Kubin

Foto: Nachlass Herbert Lange; © Adalbert-Stifter-Institut / StifterHaus

Geb. 10.4.1877 in Leitmeritz (heute: Litoměřice, Tschechische Republik), gest. 20.8.1959 in Zwickledt (OÖ).
Bedeutendster österreichischer Zeichner, Buchillustrator und Druckgrafiker in der ersten Hälfte des 20. Jh. Sein einziger Roman, Die andere Seite (1908/09), gilt als Schlüsseltext der zentraleuropäischen Jahrhundertwende.

Kubin, dessen Vater Landvermesser ist, verbringt seine Kindheit und Jugend in Salzburg und Zell am See. Auf eine Fotografenlehre in Klagenfurt folgt 1898/99 ein Kunststudium in München, das er jedoch abbricht.
Nach der Begegnung mit Max Klingers (1857-1920) Radierzyklus Paraphrase über den Fund eines Handschuhs durchlebt Kubin 1899 bis 1903 einen veritablen Schaffensrausch, einen "Sturz von Visionen schwarz-weißer Bilder" (Kubin 1974, 26). Bald erwirbt er sich in der Münchner Bohème einen Ruf als Tuschfederzeichner und Buchillustrator, spezialisiert auf fantastische, groteske wie allegorische Sujets - ein "Organisator des Ungewissen, Zwitterhaften, Dämmerigen, Traumartigen" (Brief vom 9.1.1908, zit. nach Herzmanovsky-Orlando 1983, 10). Zahlreiche Ausstellungen folgen. Kubin hat zeit seines Lebens ca. 60 literarische Werke (unter ihnen E. A. Poe, Fjodor Dostojewski, Gérard de Nerval und E.T.A. Hoffmann) illustriert, etliche Kunstbände und Mappenwerke mit Druckgrafiken veröffentlicht und tausende Federzeichnungen hinterlassen.
1906 verlegt Kubin seinen Wohnort auf den Herrensitz Zwickledt bei Wernstein am Inn. Hier bleibt er bis an sein Lebensende, zusammen mit Hedwig Gründler, der Schwester des Schriftstellers Oscar A. H. Schmitz (1873-1931), die er 1904 geheiratet hat. Regional wird sein Werk aber auch durch seine Liebe zum Böhmerwald und zum Bayerischen Wald beeinflusst.

Nach einer depressiven Schaffenskrise - Auslöser ist der Tod von Kubins Vaters - verfasst das Doppeltalent 1908/09 in nur wenigen Wochen seinen einzigen Roman, Die andere Seite, und versieht ihn mit eigenen Illustrationen: ein fantastischer Schlüsseltext der Jahrhundertwende, der in Ich-Form die fiktive Reise eines Zeichners nach Zentralasien erzählt, die ihn ins rätselhafte "Traumreich" führt. Dieses wird von seinem Gründer Patera, einer unheimlichen Vaterfigur, hypnotisch beherrscht, bis es in einer Katastrophe ebenso mysteriös untergeht.
Der Text- und Bild-Roman Kubins ist gleichermaßen als Allegorie auf den problematisch gewordenen k.u.k. Vielvölkerstaat lesbar wie als narrative Reaktionsbildung auf die Ideengeschichte jener Zeit oder auch als (autobiografischer) Künstlerroman. Trotz ihrer insularen Stellung im Gesamtwerk des Künstlers ist Die andere Seite das wohl herausragendste deutschsprachige Beispiel für eine dystopische Untergangsliteratur um 1900, das Positionen und Motive Franz Kafkas wie auch später Hermann Kassacks und Christoph Ransmayrs vorwegnimmt.
1909 beteiligt sich Kubin zusammen mit Wassily Kandinsky (1866-1944) und anderen an der Gründung der Neuen Künstlervereinigung München, der Vorgängerorganisation des Blauen Reiter, und nimmt 1911 auch an dessen erster Ausstellung teil. 1912 beginnt Kubins Mitarbeit an der Satire-Zeitschrift Simplicissimus, die bis zur Einstellung des Blatts 1944 anhält.
1931 entwirft Kubin das Bühnenbild zu Richard Billingers Drama Rauhnacht für dessen Uraufführung an den Münchner Kammerspielen. Unter seinen Freunden und Korrespondenzpartnern finden sich Hermann Hesse, Fritz von Herzmanovsky-Orlando, Ernst Jünger, Hans Carossa und Hans von Müller.

Die Position des "unpolitischen Menschen" Kubin in der Zeit des Nationalsozialismus ist ambivalent. Zwar werden 1936 seine 20 Bilder zur Bibel verboten; weitere Publikationen und auch Ausstellungen finden jedoch statt. Während des Zweiten Weltkriegs entwickelt der Künstler eine allegorische Bildsprache zu einer verklausulierten Auseinandersetzung mit der deutsch-österreichischen Katastrophengeschichte, die einige Interpreten bereits "prophetisch" in Die andere Seite vorweggenommen gesehen haben.

1947 wird Kubin Ehrenbürger der Stadt Linz, 1949 von Schärding, 1957 erhält er das Österreichische Verdienstkreuz für Wissenschaft und Kunst. Seit 1962 gibt es in Zwickledt die "Kubin-Gedenkstätte" (vom Oberösterreichischen Landesmuseum betreut seit 1992). 1964 werden Kubins Arbeiten postum auf der Documenta III in Kassel gezeigt. Zurzeit besitzt das Oberösterreichische Landesmuseum in Linz die weltweit größte Sammlung von Kubin-Arbeiten. Der Große Kulturpreis des Landes Oberösterreich für Bildende Kunst wird seit 1989 als Alfred-Kubin-Preis verliehen.

Clemens Ruthner

 

Die andere Seite. München 1909. - Aus meiner Werkstatt. Gesammelte Prosa mit 71 Abbildungen. Hg. von Ulrich Riemerschmidt. Berlin 1939. - Aus meinem Leben. Gesammelte Prosa mit 73 Abbildungen. Hg. von Ulrich Riemerschmidt. München 1974. - Herzmanovsky-Orlando, Fritz von: Der Briefwechsel mit Alfred Kubin 1903-1952. Salzburg, Wien 1983 (= ders.: Sämtliche Werke, Bd. 7). - Jünger, Ernst; Kubin, Alfred: Eine Begegnung. Frankfurt/Main u. a. 1975.

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