Die 70 Episoden dieses "Atlas" spielen auf der ganzen Welt, im Südpazifik oder der amerikanischen Wüste, im tibetischen Hochland oder im brasilianischen Regenwald, auf der neuseeländischen Südinsel oder in der marokkanischen Sahara. Und doch sind in diesem Atlas aus Erzählungen auch österreichische Orte verzeichnet, speziell auch oberösterreichische. Schon die von Christoph Ransmayr unter sein Vorwort gesetzte Angabe zu Ort und Zeit der Niederschrift vermerkt einen solchen: "Kollmannsberg Alm, im Frühjahr 2012". "Geschichten ereignen sich nicht, Geschichten werden erzählt" (5), so der Eröffnungssatz mit seinem programmatischen Hinweis auf die Geformtheit der nur scheinbar bloßen Schilderungen.
"Ich sah ...", hebt der Erzähler 70mal an, also etwa: "Ich sah einen schlafenden Mann auf einer Uferwiese der Traun, eines Flusses, der durch das oberösterreichische Alpenvorland seiner Mündung in die Donau und damit dem schwarzen Meer entgegenfließt." (92) "Ich sah eine leere Parkbank, eine von dreien, die auf dem Marktplatz der oberösterreichischen Gemeinde Lambach vor dem schmiedeeisernen Zaun des angrenzenden Apothekergartens standen." (147) Oder: "Ich sah eine weinende Frau in der Sakristei der Pfarrkirche von Roitham, einem oberösterreichischen Voralpendorf in Sichtweite von Gebirgszügen mit Namen wie Höllengebirge und Totes Gebirge." (260) Oder schließlich: "Ich sah ein sechsjähriges, nein: siebenjähriges Mädchen, vor drei Tagen war Geburtstag gefeiert worden, auf einem verschneiten Feld unweit der Auen des Grenzflusses Inn, [...]." (441) Selbst eine Erzählung, deren Eröffnung in die entferntesten Weiten des Weltalls zu entführen scheint ("Ich sah eine Spiralgalaxis im Sternbild Haar der Berenike, [...]."; 191), spielt am Fuß des Höllengebirges und handelt u.a. von den Ärgernissen touristischer Zurichtungen dieses Naturraums, in diesem Fall von der Lichtverschmutzung durch eine "von einer Scheinwerferbatterie in gleißendes Licht getaucht[en]" (193) Seilbahnstation.
Ransmayrs Atlas führt somit aus der Ferne immer wieder auch zurück nach Oberösterreich, etwa wenn er in Weißer Sonntag den Umschlag von Vorfreude eines Mädchens auf weiße Lackschuhe in Enttäuschung über die Schmähung durch ihren Vater in einem Schuhgeschäft in Schwertberg schildert; schließlich zurück in die Landschaft der Kindheit, in die eigene Biografie, wenn er in Abschied vom plötzlichen Tod des Vaters in Lambach berichtet (dem Ort, in dem Ransmayr das Stiftsgymnasium der Benediktiner besuchte), oder in Blut die weinende Frau in der Pfarrkirche von Roitham (dem Ort, in dem Ransmayr aufgewachsen ist) um ihren von einem Gendarmen erschossenen Sohn trauern lässt und diesem damit ein Denkmal setzt, oder in Sturmschaden vom Abdecken des Daches des Kaiser-Franz-Josef-Jubiläums-Lehrerheims in Roitham durch einen Föhnsturm erzählt, der die von den Brüdern entdeckte geheime Schatzkammer freilegt und in den Schulhof befördert, wo sich deren lange weggesperrter Inhalt als Hakenkreuzfahnen, Reichsadler, Wehrmachtsstandarten, SS-Zierdolche und Hitler-Bild entpuppen. Und die am Rand der Inn-Auen spielende Erzählung vom Mädchen im Wintergewitter schildert schließlich nicht mehr eigenes Erleben, sondern das seiner späteren Lebensgefährtin.
Somit kartografiert Christoph Ransmayr in diesem Atlas nicht nur nahe und entlegenste Gegenden, Begegnungen mit und Schicksale der unterschiedlichsten Menschen, sondern liefert auch Puzzlesteine seiner eigenen Biografie, verbürgt durch das "Ich sah", das für ihn, wie er im Interview mit Norbert Mayer betont hat, zum "Schlüssel für die Erzählweise" (Mayer 2012) wurde. Von der Kritik wurde das Buch überwiegend äußerst positiv aufgenommen (höchstens mit der Einschränkung, es sei zu makellos) - Ulrich Weinzierl etwa schrieb von "Essenz und Manifest seiner unverwechselbaren Sprachkunst" und nannte Ransmayrs Atlas einen "Geniestreich" (Weinzierl 2012).
Martin Huber
Atlas eines ängstlichen Mannes. Frankfurt/Main 2012.
Hage, Volker: Grenzgänger im ewigen Eis. In: Der Spiegel, 44/2012. - Mayer, Norbert: Ransmayr: "Wir sind Teil dieses ungeheuren Theaters!" (Interview). In: Die Presse, 24.10.2012. - Schröder, Christoph: Der letzte Seher. In: Der Tagesspiegel, 27.10.2012. - von Wysocki, Gisela: Die Welt ist voller Wunder. In: Die Zeit, 45/2012. - Weinzierl, Ulrich: Die Kunst, von der Welt Notiz zu nehmen. In: Die Welt, 29.10.2012.
Stand: 4.2.2106