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Christoph Ransmayr

© Willy Puchner

Geb. 20.3.1954 in Wels.
Einer der auch international einflussreichsten zeitgenössischen oberösterreichischen Romanautoren und Verfasser von Reportagen.

Mit den Romanen Ransmayrs hat sich die österreichische Nachkriegsliteratur vielleicht am deutlichsten von ihrem "Österreich-Komplex" frei geschrieben, bei aller trotzdem vorhandenen Nähe zur österreichischen Geschichte und dem Interesse etwa für die geologischen Verhältnisse von Gebirgslandschaften mit so metaphorisch aufgeladenen Bezeichnungen wie "Totes Gebirge" oder "Steinernes Meer". "Solange man den Einzelnen nicht aus dem Blick verliert", meinte der Autor in einem Interview, "besteht eine relative Immunität gegen die Versuchung, ein ganzes Land pauschal zu verfluchen." (zit. nach Porträt 10) Dieser Satz markiert auch die Distanz zu einem Autor wie Thomas Bernhard, dessen Naturbeschreibungen aussparende All-Sätze einen Kontrapunkt zu den Texten Ransmayrs bilden.
Die Rückbezüge auf die Landschaften des Salzkammerguts und auf die in Österreich und durch Österreicher begangenen nationalsozialistischen Gewaltverbrechen erfahren bei Ransmayr eine räumliche und zeitliche Ausweitung. Das gilt insbesondere für den Roman Morbus Kitahara (1995), der seinen Ausgangspunkt u. a. von den Verbrechen im Lager Ebensee, einem Nebenlager des KZ Mauthausen, nimmt. Ihr Ende findet diese Erzählung über die körperlichen und psychischen Deformationen, die die Ausübung und das Erleiden von Gewalt bei Tätern und Opfern anrichtet, in Brasilien. Ransmayrs von der Antarktis über den indischen Subkontinent bis ins tibetische Hochland ausgreifenden Romane, Reportagen und Erzählungen hängen auch mit den persönlichen Lebensumständen eines Autors zusammen, der über Jahrzehnte ausgedehnte Reisen in alle Weltgegenden unternahm und dreizehn Jahre seines Lebens im irischen West Cork verbrachte. Die Zuerkennung des "Prix Aristeion der Europäischen Union" (gemeinsam mit Salman Rushdie) im Jahre 1996 ist äußeres Zeichen einer im Schreiben und Reisen erreichten schriftstellerischen Welthaltung.

Ransmayr wuchs in Roitham bei Gmunden auf und besuchte das Stiftsgymnasium in Lambach. Die Prägung des späteren Weltreisenden durch seine Herkunftsorte zeigt sich nicht nur am Roman Morbus Kitahara, in den die Topografie des Salzkammergutes als Topografie des Nazi-Terrors eingegangen ist, sondern auch an den Reportagen, die Ransmayr vor seiner Karriere als Schriftsteller in den Jahren 1978-85 für Zeitschriften wie Geo, Merian, TransAtlantik oder die österreichische Monatsschrift Extrablatt verfasste. In der oberösterreichischen Provinz schärfte sich der Blick für die abseits der zivilisatorischen Hauptstraßen liegenden Dinge und für Menschen, die sich ihr Leben in den verschiedensten letzten Welten einrichteten, wie der Konditor, der jahrzehntelang das Leben seiner Mostviertler Umgebung auf Dias bannte und somit zum Chronisten einer untergegangenen Lebenswelt wurde; oder wie der Totengräber von Hallstatt, der die ausgebleichten Schädel seiner Klientel nach altem Muster bemalte - Nachrichten aus einer fernen Heimat, gesammelt im 1997 erschienenen Band Weg nach Surabaya.
Die Faszination, die unterschiedliche kulturelle Praktiken ausüben, und das frühe Interesse für jene Prozesse, die Theodor W. Adorno und Max Horkheimer als "Dialektik der Aufklärung" charakterisierten, beeinflussten auch die Studienwahl Ransmayrs, der zwischen 1972 und 1978 Philosophie und Ethnologie an der Universität Wien studierte und sich insbesondere mit Forschungen zum Verhältnis von gesellschaftlicher Utopie und Religiosität beschäftigte. Der "Wiener Dschungel" oder auch das "Palastdorf" Wien wirkten auf den "ziemlich verschreckten Schüler[] des Stiftsgymnasiums der Benediktiner im oberösterreichischen Lambach" überwältigend (Porträt, 23f.).

Die ironische Apokalypse in seiner ersten Buchveröffentlichung Strahlender Untergang (1982), die Suche einer Figur namens Mazzini nach den Spuren einer im Eis steckengebliebenen k.k. Polarexpedition in Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984), die postapokalyptische Welt im Roman Morbus Kitahara, der Gang zweier Brüder aus dem Irland der Gegenwart und jüngeren politischen Vergangenheit in das ewige Eis Tibets in Der fliegende Berg (2006) nehmen von der Prähistorie einer Welt ohne Menschen über verschiedenste historische Räume bis zur Posthistorie einer Welt nach ihrem voraussehbaren Untergangdie verschiedensten Weltbilder in den Raum der Erzählung auf. Die Überblendung unterschiedlicher Zeitebenen, in diesem Fall der antiken mit der gegenwärtigen, prägt auch Ransmayrs international bekanntesten Roman, Die letzte Welt (1988), der inzwischen in ca. 30 Sprachen übersetzt wurde. Sein Grundeinfall besteht darin, dass sich der Protagonist Cotta auf die Suche nach seinem aus Rom verbannten Freund Ovid macht. Dabei wird ein dichtes Netz an Bezügen zwischen den Figuren aus Ovids Hauptwerk Metamorphosen und den Figuren in der Erzählgegenwart des Romans geknüpft: Der römische Kaiser Augustus spricht in einen Wald von Mikrofonen - Ausweis imperialer und medialer Macht -, oder ein Wanderkinobetreiber macht in Ovids Exilort in Tomi am Schwarzen Meer Station. Einen narrativen Raum mit einer eigenen poetischen Zeit zu entwerfen, gehört zu den Grundsätzen von Ransmayrs Poetik. Die Existenz einzelner Menschen wird dabei in einen kosmischen, auch erdgeschichtlichen Zusammenhang und zugleich in ganz bestimmte politische und historische Konstellationen eingebettet. Der ins Exil getriebene römische Dichter Ovid wird in der Letzten Welt selbst zu einer mythischen Figur, die in einer Steinwüste am Rande des damaligen Erdkreises verschwindet.

Die beschriebenen literarischen Verfahrensweisen haben Ransmayr neben großen Erfolgen bei Publikum und Feuilleton auch Kritik eingebracht. Die Opposition von Zivilisation und Wildnis, Modell all seiner Bücher, liefe schließlich auf eine Affirmation des Immergleichen hinaus, die nur eines bedeute: "daß es schon immer so war" (Beckelmann 8). Die historische Indifferenz der Romane ist aber gerade auch eine erzählerische Qualität, nämlich die Zurückweisung vorschneller historischer oder aktuell-politischer Assoziationen. Eine Vorstellung von Literatur, die sie ausschließlich als Medium der Aufklärung definiert, übersieht die atmosphärische Dichte, die Ransmayrs genau konstruierte Satz-Bilder schaffen. Dass das Pathos aus Sprachkunst ein großes nicht nur stilistisches Wagnis darstellt, ist kein Argument gegen das Pathos, zumal es bei Ransmayr auch konstruktiv gebrochen ist. Am deutlichsten thematisiert den konstruktiven Aspekt poetischer Arbeit der Dokumentations- und Rechercheroman Die Schrecken des Eises und der Finsternis, in dem ausführliche Zitate aus Berichten und Dokumenten von der 1872 begonnenen Payer-Weyprecht'schen Nordpolexpedition verarbeitet sind. Dem Roman Die letzte Welt ist ein "ovidisches Repertoire" beigegeben, wodurch die Differenz zwischen den mythischen Figuren bei Ovid und ihrer Transponierung in ein fiktives Romangeschehen offensichtlich wird. Erzähler und Erzählung sind bei Ransmayr eng an die Utopie einer Gemeinschaft von Zuhörern und Erzählern gebunden; wobei die kulturelle Fremdheit der Orte und Szenen, der Mythen und Erzählungen diesem Verfahren entgegenkommt. Die "Vorstellungskraft" nicht nur der Erzähler, sondern auch der Zuhörer und Leser soll als Gegengift gegen "die Dummheit der Barbarei" wirken. (Ransmayr 2004, 20f.)

Ransmayrs Texte betreiben Zivilisationskritik, indem sie anthropologische Fragen poetisieren: Wo findet die Entdecker- und Abenteurernatur des Menschen ihre natürliche Grenze? Wo schlägt das Pathos der Entgrenzung in Zeit und Raum - Sinnbild dafür ist das Gehen durch menschenleere Stein-, Sand- oder Eiswüsten - um in (Selbst)Zerstörung? Wo zwischen den Dokumenten und Daten der Überlieferung und den Eigenschaften einer nichtmenschlichen Natur ist der Ort des Menschen? Geschichte ist für Ransmayr ein gewaltsamer Prozess der Verdrängung. Die Erzählung heftet sich auf die Spuren Einzelner, hinter denen jeweils eine unwiederholbare Menge von Verschwundenen steht: die namenlosen Begleiter der berühmten Forscher und Entdecker, die unter Eis und Schnee begrabenen ebenfalls meist namenlosen Sherpas, Opfer gescheiterter Gebirgsexpeditionen, die zahllosen namenlosen Emigranten aller Zeiten und Systeme und die in Ziffern nicht fassbaren Verschwundenen der Konzentrationslager.

Bernhard Fetz

 

Strahlender Untergang. Mit 28 Reproduktionen nach Fotografien von Willy Puchner. Wien 1982 (Neuauflage: Frankfurt/Main 2000). - Die Schrecken des Eises und der Finsternis. Roman. Mit 8 Farbfotografien von Rudi Palla und 11 Abbildungen. Wien, München 1984 (Neuauflage: Frankfurt/Main 1999). - Die letzte Welt. Roman. Mit einem ovidischen Repertoire. Nördlingen 1988. - Morbus Kitahara. Roman. Frankfurt/Main 1995. - Der Weg nach Surabaya. Reportagen und kleine Prosa. Frankfurt/Main 1997. - Die Unsichtbare. Tirade an drei Stränden. Frankfurt/Main 2001. - Geständnisse eines Touristen. Ein Verhör. Frankfurt/Main 2004. - Die Verbeugung des Riesen. Vom Erzählen. Frankfurt/Main 2003. - Der fliegende Berg. Frankfurt/Main 2006. - Damen & Herren unter Wasser. Eine Bildergeschichte nach 7 Farbtafeln von Manfred Wakolbinger. Frankfurt/Main 2007. - Odysseus, Verbrecher. Schauspiel einer Heimkehr. Frankfurt/Main 2010. - [gem. mit Martin Pollack] Der Wolfsjäger. Drei polnische Duette. Frankfurt/Main 2011. - Atlas eines ängstlichen Mannes. Frankfurt/Main 2012. - Gerede: Elf Ansprachen. Frankfurt/Main 2014. - Cox oder Der Lauf der Zeit. Frankfurt/M. 2016.

Bockelmann, Eske: Christoph Ransmayr. In: Kritisches Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG). Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München (Stand: 1.4.2007 [erscheint laufend]). - Bombitz, Attila (Hg.): Bis zum Ende der Welt. Ein Symposium zum Werk von Christoph Ransmayr. Wien 2015. - Mittermayer, Manfred; Langer, Renate (Hg.): Porträt Christoph Ransmayr (= Die Rampe 2009, H. 3; enth. ausführliche Bibliografie). - Wittstock, Uwe (Hg.): Die Erfindung der Welt. Zum Werk von Christoph Ransmayr. Frankfurt/Main 1997.

2.1.2017