Nachdem Thomas Bernhard 1965 einen alten Bauernhof in Obernathal bei Gmunden erworben hatte, kam er regelmäßig an den Traunsee. Auf die Idee, ein stillgelegtes Kalkwerk als Schauplatz eines Romans zu wählen, dürfte er beim Anblick zweier am Ostufer des Sees und am Fuße des steil aufragenden Traunsteins gelegener Kalkbrennereien gekommen sein. Die im Roman beschriebene eingezwängte Lage zwischen Wasser und Felswand entspricht den dortigen Gegebenheiten. Beide Kalköfen wurden 1968 aufgelassen und in den 70er Jahren, kurz nach Erscheinen des Romans, abgerissen. Wieland und Erika Schmied weisen auf ein weiteres Kalkwerk hin, das den Autor ebenfalls inspiriert haben mag. Es liegt nicht weit entfernt in Steyrling bei Klaus, zwar nicht am Ufer eines Sees, aber unter einer Felswand (vgl. Schmied 2000, 62ff.).
Im Roman steht das Kalkwerk in Sicking. Ein gleichnamiger Ort existiert zwar nicht weit von Obernathal entfernt, dort gab und gibt es aber kein Kalkwerk. Für die Wahl des Ortsnamens mag die zu Assoziationen anregende Lautgestalt entscheidend gewesen sein. Im Übrigen situiert Bernhard sein fiktives Sickinger Kalkwerk inmitten realer topografischer Bezeichnungen wie Lambach, Kirchham, Wels und Krems.
Das Kalkwerk ist eines der bei Bernhard häufigen festungsartigen Gemäuer, die für die in ihnen hausenden Figuren Gefängnis und Zuflucht zugleich sind. Konrad, der Protagonist, zwingt seine verkrüppelte Frau, seine Klausur zu teilen. "Natürlich sei Sicking ein Kerker, sagte Konrad zu Fro, und es mache ja auch von außen schon den Eindruck eines Kerkers, eines Arbeitshauses, einer Strafanstalt, eines Zuchthauses, [...] festverschlossene, festverriegelte Türen, festvergitterte Fenster, alles festverschlossen und festverriegelt und festvergittert" (19 u. 21). Diesen "Verrammelungsfanatismus" (Bernhard 2006, 19), um ein Wort aus Bernhards späterem Roman Der Untergeher zu zitieren, teilt Konrad nicht nur mit anderen Bernhard-Figuren, sondern auch mit dem Autor selbst, der sein Haus mit einem "riesigen Kerker" (Bernhard 1971, 152) verglichen hat.
Das Kalkwerk ist der Tatort eines Mordes. Der Leser erfährt gleich zu Anfang, dass Konrad, der Protagonist, zu Weihnachten seine gelähmte Ehefrau, die zugleich seine Halbschwester ist, erschossen hat. Der in der Gegend fremde Ich-Erzähler versucht die Vorgeschichte dieses Verbrechens zu rekonstruieren, indem er Aussagen von Bekannten des Paares sammelt. Konrad ist einer jener Bernhard'schen "Geistesmenschen", deren ganze Existenz um die Abfassung einer Studie kreist und die an diesem Vorhaben scheitern. In der Abgeschiedenheit des Kalkwerks missbraucht er seine Frau für Experimente, die die Materialbasis einer wissenschaftlichen Arbeit über den Gehörsinn bilden sollen. Die körperlich Wehrlose rächt sich auf subtile Weise. So ist das Paar jahrzehntelang in eine von wechselseitiger Abhängigkeit geprägte, sadomasochistische Beziehung verstrickt, bis sich Konrads aufgestaute Aggression in einem tödlichen Gewaltausbruch entlädt.
Als Das Kalkwerk im Herbst 1970 erschien, war das Interesse groß, da der Autor im selben Jahr den Büchnerpreis erhielt. Waren Bernhards frühere Prosawerke zwar von Literaturexperten hoch geschätzt, aber nur einem kleinen Leserkreis bekannt, so erzielte der neue Roman größere Breitenwirkung und wurde auch zu einem kommerziellen Erfolg. In der Bundesrepublik Deutschland neigte man dazu, "das stillgelegte Kalkwerk als ein Zeichen für das in Stagnation versunkene Österreich" (Wallmann 1971) zu interpretieren. Gegen diese - vor allem für Deutsche - allzu bequeme Lesart wandte sich Herbert Gamper. "Thomas Bernhard ist ein beim Wort zu nehmender, durch und durch realistischer Autor, und zwar in radikal anderem Sinne als jene meinten, die ihn als österreichischen Heimatdichter zu neutralisieren suchten." (Gamper 1970) Hans Höller rückte das reale Vorbild des Kalkwerks in eine historische Perspektive: "Der wahnsinnige Blick Konrads erweist sich als geschichtlich hellsichtig, weil er die vergangenen Verbrechen in der Arbeitswelt des Kalkwerks in Erinnerung ruft. Tatsächlich waren auch in den Kalkwerken der Gegend während der NS-Zeit Konzentrationslagerhäftlinge zutode geschunden worden" (Höller/Hinterholzer 1999, 162). Joachim Hoell erklärte, dass das Kalkwerk am Traunsee "eine Außenstelle des größten österreichischen Konzentrationslagers Mauthausen war", und stellte einen Zusammenhang mit dem "Mißbrauch der Wissenschaften" durch Konrad her (Hoell 2000, 91).
Im Laufe der Rezeptionsgeschichte wurde Das Kalkwerk immer wieder mit Werken Adalbert Stifters in Beziehung gebracht. Schon in den Rezensionen wurde das Buch als "Gegenentwurf zum nachsommerlich idyllischen Herrschaftsbesitz großer österreichischer Literaturtradition" (Höller 1970) und "ein um 180 Grad gewendeter Nachsommer"(Widmer 1970) aufgefasst. Später wurde auch auf Ähnlichkeiten zwischen Bernhards Roman und den Erzählungen Der Hagestolz und Der Waldsteig hingewiesen (vgl. Höller 1994; Langer 2006).
Renate Langer
Das Kalkwerk. Hg. von Renate Langer. Frankfurt/Main 2004 (= Thomas Bernhard: Werke. Hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler, Bd. 3). - Drei Tage. In: Thomas Bernhard: Der Italiener. Salzburg 1971, 144-161. - Der Untergeher. Hg. von Renate Langer. Frankfurt/Main 2006 (= Thomas Bernhard: Werke, Bd. 6).
Gamper, Herbert: Mutmaßungen über Konrad. In: Die Weltwoche, 30.10.1970. - Hoell, Joachim: Thomas Bernhard. München 2000. - Höller, Johannes [= Hans]: Modell einer geschlossenen Daseinsform. In: Salzburger Nachrichten, 31.10.1970. - Höller, Hans; Hinterholzer, Erich: Poetik der Schauplätze. Fotos und Texte zu Romanen Thomas Bernhards. In: Thomas Bernhard - Johannes Freumbichler - Hedwig Stavianicek. Hg. von Manfred Mittermayer. Linz 1999 (Die Rampe extra), 145-166. - Höller, Hans: Thomas Bernhard und Adalbert Stifter. Die Radikalisierung der Isolation und Todesfixierung von Stifters Hagestolz. In: Literarisches Kolloquium Linz 1984: Thomas Bernhard. Materialien. Hg. von Johann Lachinger und Johann Pittertschatscher. 2. Aufl. Weitra 1994, 41-52. - Langer, Renate: Arzt und Patient bei Stifter und Bernhard. In: Thomas Bernhard Jahrbuch 2005/2006, 87-104. - Ruthner, Clemens: (Text-)Räume des Schreckens. Thomas Bernhard und E. A. Poe. In: Joachim Hoell und Kai Luehrs-Kaiser (Hg.): Thomas Bernhard. Traditionen und Trabanten. Würzburg 1999, S. 135-142. - Schmied, Wieland und Erika: Thomas Bernhards Österreich. Schauplätze seiner Romane. Salzburg, Wien 2000. - Wallmann, Jürgen P.: ... zu schreiben von der Unmöglichkeit zu schreiben ... In: Mannheimer Morgen, 23.4.1971. - Widmer, Urs: Ablenken von der Angst. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.10.1970.