Die Geschichte, die Huemer, der Protagonist dieser Erzählung, erlebt (wie er ausdrücklich versichert: "nicht erfunden, auch nicht geträumt") hat und die er offensichtlich gerne erzählt, ist allein schon merkwürdig genug. Ebenso merkwürdig aber ist, dass er immer wieder neu ansetzt, seine Geschichte zu erzählen, und dabei wiederholt versucht, seine eigenen Deutungen der Geschichte zu überprüfen oder sogar zu entkräften. "Eine gewisse Kleinlichkeit und Ängstlichkeit gehörte zu seinen Eigenschaften", meint der Ich-Erzähler, der Huemers Geschichte wiedergibt, allerdings nicht weniger unsicher und pedantisch als der Protagonist selbst wirkt.
Nach einer acht Tage dauernden Reise, die alles andere als glücklich verlaufen ist, will Huemer "heimkommen", nach Hause zurückkehren. Er begibt sich jedoch nicht direkt in seine Wohnung (die auf dem Land liegt), sondern bleibt zunächst in der "Stadt", in der er sich regelmäßig mit einer kleinen Gesellschaft trifft, der auch der Ich-Erzähler angehört. In einem Auto vergisst er seinen Mantel - auf den ersten Blick ein arges Missgeschick. Denn diesen Mantel, ein Kleidungsstück, das für seine Verhältnisse viel zu teuer gewesen ist, hat er erst unmittelbar vor der Reise gekauft und noch nie getragen. Als er schließlich die Frau trifft, der er im Auto den Mantel anvertraut hat, nimmt er ihn jedoch nicht mehr zurück.
Er hat nämlich gelernt - jedenfalls in seinem Verständnis -, den Dingen anders zu begegnen als früher und seine Verfehlungen zu sehen; konkret: sein Verhalten Frauen gegenüber. Im Akt des Erzählens beginnt er zu reflektieren, er gebraucht Worte wie "Stillstand der Zeit" oder auch "spellbound", was so viel heißt wie "bezaubert" oder "durch Buchstaben gebannt". Der Ich-Erzähler übersetzt, was Huemer empfunden haben dürfte, dann in seine Diktion: "alles, was einem geschah, wozu man sich selber regte, war nur Regung innerhalb dieses Gebundenseins." Am Ende fühlt sich Huemer, der doch immer "so gerne zögerte" (der sich auf die Dinge nicht einlassen wollte, auf die Menschen noch viel weniger), "sorgloser, freier, großzügiger", das Erlebnis mit dem Mantel hat ihn verwandelt.
Die "Stadt", der Schauplatz des Geschehens, wird namentlich nie genannt. Sie sei alles andere als attraktiv, findet der Ich-Erzähler, und deshalb auch "noch niemals beschrieben worden als Schauplatz oder Hintergrund einer Geschichte." Besonders in der Altstadt stünden die Kirchtürme dicht beieinander, aber die Zeitanzeigen auf diesen Türmen seien ganz unzuverlässig, oft seien "auf ein- und demselben Turm an den vier Seiten vier verschiedene Zeigereinstellungen zu sehen". Alles an diesem Ort wirkt statisch, öde; kein Wunder, dass Huemer hier kein Zuhause findet und sich also einen Mantel kauft, um so etwas wie Geborgenheit empfinden zu können. Positiv besetzt ist nur der Strom, an dem die Stadt liegt. "Niemals ist er blau; wenn es lange trocken war, ist er grün; im Frühjahr lehmig, das ist seine Hauptfarbe." - Es fällt nicht schwer, in dem penibel gezeichneten Schauplatz Linz zu erkennen.
Huemer ist von Beruf Zeichner. Er bewegt sich am liebsten in Bildern. Einer seiner Bekannten, der sich mit dem groß angelegten Unternehmen, eine "Geistesgeschichte der Provinz" zu verfassen, vollkommen übernommen hat, weil es ihm nicht gelungen ist, eine Distanz zum Gegenstand zu schaffen, ermutigt ihn, aus dem Stillstand auszubrechen: "seien Sie froh, daß Sie so früh weg sind, und daß Sie nicht zuhause sind hier, das ist unbezahlbar!" Huemer hängt an der Stadt, trotz allem, nicht anders als der Ich-Erzähler, aber beiden ist bewusst, dass das Auf-Distanz-Gehen den Blick auf das Eigene und auf die Welt schärft.
Huemer und der Ich-Erzähler haben unverkennbar vieles gemein mit ihrem Autor. Franz Tumler ist bekanntlich in den 1950er-Jahren aus Oberösterreich nach Berlin übersiedelt und dort radikal abgerückt von jenen politischen und poetologischen Positionen, die ihn seit 1938 gefesselt haben. Schon in seinem Buch Berlin. Geist und Gesicht (1953) verrät sich eine neue Weltsicht. Im Roman Der Schritt hinüber (1956) findet sich dann erstmals jene neue Schreibweise, die in der Erzählung Der Mantel das gesamte Terrain beherrscht. Das Auf-Distanz-Gehen zur Blut- und Boden-Dichtung der 1930er- und 1940er-Jahre wird in dieser Erzählung nicht nur befördert durch unübersehbare Bezugnahmen auf Gogols berühmte Novelle Der Mantel (1842), in etlichen Verschlingungen zwischen den Geschichten von Akaki Akakiewitsch und Huemer, sondern auch durch Tumlers Beschäftigung mit dem "Nouveau Roman". 1958 rezensiert er Alain Robbe-Grillets Roman Le voyeur, er vergleicht ihn mit Samuel Becketts Molloy und kommt zum Schluss, dass der "Roman althergebrachter Art", der Lebenszusammenhänge noch psychologisieren und interpretieren wollte, mit diesen neuen Werken wohl endgültig als überholt betrachtet werden müsste. Die nicht durchschaubare Wirklichkeit wenigstens annähernd zu erfassen, durch ein sorgfältiges Registrieren, Aufzählen, Aufschreiben, durch "Nachprüfung" (der Begriff kommt schon in dieser Erzählung vor), nicht zuletzt durch permanente Andeutungen, wie viel es noch zu erzählen gäbe: das ist von da an Tumlers Hauptanliegen.
Tumler hat diese "Art des Sehens" selbst auch auf seine Bekanntschaft mit dem Film, insbesondere mit dem Stummfilm, zurückgeführt. In den späten 20er-Jahren, in denen er das Bischöfliche Lehrerseminar in Linz besucht hat, habe er, so erzählt er in seinem autobiografischen Bericht Jahrgang 1912, beinahe täglich ein Kino aufgesucht und außerdem Texte gelesen, die er in ähnlicher Weise als Schule des Sehens verstanden hätte: Hermann Broch, Robert Musil, Bertolt Brecht.
Vieles spricht dafür, dass er die Vorwürfe, er habe sich nie - auch nicht in dem Bericht Jahrgang 1912 - deutlich genug von seinen Einträgen in den Verbund des nationalsozialistischen Schrifttums distanziert, aus seiner Sicht ganz unmissverständlich beantwortet hat: eben durch die neue Schreibweise, die Der Mantel präsentiert und die nur mehr Erzähler zu Wort kommen lässt, die sich ihrer Sache in keinem Moment sicher sind; Erzähler, die sich dennoch anstrengen, die Wahrheit herauszufinden, durch gnadenlose Nachprüfung und präzise Aufschreibung, die dabei aber nie mehr daran denken, ihren Standpunkt zu verabsolutieren. Der Mantel ist zweifellos ein Glanzstück der deutschsprachigen Literatur des 20. Jh.
Johann Holzner
Der Mantel. Erzählung. Frankfurt/Main 1959. - Der Mantel. Erzählung. München 1986. - Der Mantel. Erzählung. Mit Zeichnungen von Alfred Kubin und einem Nachwort von Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt/Main 2008. - Gogol, Nicolaj: Der Mantel. Eine Novelle. Aus dem Russischen übertragen von Rudolf Kassner. Leipzig o. J.
Bernhart, Toni: Nachwort. In: Franz Tumler: Hier in Berlin, wo ich wohne. Innsbruck, Wien 2014, 229-239. - Franz Tumler. Beobachter - Parteigänger - Erzähler. Hg. von Johann Holzner und Barbara Hoiß. Innsbruck, Wien, Bozen 2010. - Himmel, Hellmuth: Unsicherheit und Präzision. Zu Franz Tumlers Erzählung "Der Mantel". In: Erzähltechniken in der modernen österreichischen Literatur. Hg. von Alfred Doppler und Friedbert Aspetsberger. Wien 1976, 46-63. - Hoiß, Barbara: Ich erfinde mir noch einmal die Welt. Versuch über Moderne, Heimat und Sprache bei Franz Tumler. Univ.-Diss. Innsbruck 2006.