Bereits 1969 war unter dem Titel Ereignisse eine Sammlung von Prosaminiaturen Thomas Bernhards erschienen, die Ende der 1950er Jahre entstanden und durch starke formale Reduktion sowie inhaltliche Pointiertheit gekennzeichnet sind. Im Winter 1977/78 begann der Autor im südkroatischen Mlini bei Dubrovnik erneut eine Reihe ähnlicher Texte, die zunächst noch unter dem Arbeitstitel "Wahrscheinliches - Unwahrscheinliches" standen, der ihren Charakter sehr gut veranschaulicht. Noch deutlicher als die Ereignisse erinnern die Texte aus Der Stimmenimitator an Zeitungsberichte, wie sie unter der Rubrik Chronik alltägliche Begebenheiten schildern, die mit einer überraschenden, oft ins Groteske reichenden Wendung enden. Bernhard selbst hat in diesem Zusammenhang in einem Interview auf seine ersten literarischen Arbeiten als Gerichtssaalreporter und Journalist beim Demokratischen Volksblatt in Salzburg von 1952 bis 1954 verwiesen. Sie seien ihm "später beim Prosaschreiben wieder gegenwärtig geworden. Ein unschätzbares Kapital." (zit. nach Dreissinger 1992, 146)
Einer der kurzen, anekdotenhaften Texte bezieht sich in autobiografischer Anspielung sogar auf den Schauplatz des Gerichtssaals, wo "[d]as Wahrscheinliche, das Unwahrscheinliche, ja das Unglaubliche, das Unglaublichste" (248) zur Gewohnheit werden. Die mit "Exempel" betitelte Geschichte endet denn auch überraschend mit dem Selbstmord eines Oberlandesgerichtsrats vor aller Öffentlichkeit nach einer Urteilsverkündung. Den Namen des in der ersten Auflage des Prosabandes noch nach einer realen Person benannten Juristen hat Bernhard nach einer Klageandrohung geändert; bekanntlich handelte der Autor nicht immer gleichermaßen vorsichtig und provozierte mit seinem Werk einige Gerichtsverfahren. In einem offenen Brief in den Oberösterreichischen Nachrichten vom 22. Januar 1979 hat er selbst Stellung genommen und seine Kurztexte als "hundertvier freie[] Assoziationen und Denk-Erfindungen" (zit. nach Bernhard 2003, 566) bezeichnet.
Immerhin 19 dieser Episoden sind in Oberösterreich angesiedelt und haben ganz konkrete Schauplätze: etwa das Gasthaus Auerhahn in Vöcklabruck, das in der mit "Tausch" überschriebenen Geschichte plötzlich von einem dort einquartierten Denker übernommen wird, dessen Beruf wiederum der Gastwirt weiterführt; ein Schloss am Attersee, in dem eine Kammermusikvereinigung vor lauter Taubstummen "den größten Erfolg seit ihres Bestehens" (264) feiert; oder den sogenannten "Frauengraben" (288) im Aurachtal, in dem ein Mann auf der Suche nach einer Frau für ihn tatsächlich fündig wird. Weitere oberösterreichische Orte, in denen der "Übertreibungskünstler" (Bernhard 2009, 478; vgl. auch Schmidt-Dengler 1986) Bernhard kuriose Begebenheiten passieren lässt sind u. a. Wels, der Grasberg bei Gmunden, Ebensee, "Steirermühl" (296f.) oder Vorchdorf.
Durch die "verschleierte Authentizität" (Schmidt-Dengler 1983) und die Unbestimmtheit ihres Wahrheitsgehalts, der Realität und Fiktion engführt, erreichen die Texte eine stilistische Kunstfertigkeit und Prägnanz, die sie mit den umfangreicheren Werken Bernhards verbindet. Ihr "abgründige[r] Humor" (Kahl 1978) und pointierter Witz schlagen mitunter in böse Gesellschaftssatire um, so etwa, wenn es im Zuge eines Jagdunfalls heißt, "daß im Traunviertel sehr viele Männer ihren Jagdschein nur zu Mordzwecken ewerben." (98) Bernhard beschränkt seine Kritik jedoch keineswegs auf seine oberösterreichische Wahlheimat und damit die ländliche Provinz. Andere Episoden handeln z. B. in Salzburg oder im Ausland, die Geschichte "Genie" hat als Schauplatz schließlich "Wien, wo die Rücksichtslosigkeit und die Unverschämtheit gegen die Denker und gegen die Künstler immer am größten gewesen ist und das sicher als der größte Friedhof der Phantasien und Ideen bezeichnet werden darf [...]." (173)
Bernhard Judex
Der Stimmenimitator. In: Thomas Bernhard: Erzählungen, Kurzprosa. Hg. von Hans Höller, Martin Huber und Manfred Mittermayer. Frankfurt/Main 2003 (= Ders.: Werke. Hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler, Bd. 14), 233-349.
Dreissinger, Sepp (Hg.): Von einer Katastrophe in die andere. 13 Gespräche mit Thomas Bernhard. Weitra 1992. - Eybl, Franz: Thomas Bernhards Stimmenimitator als Resonanz eigener und fremder Rede. In: Wolfram Bayer (Hg.): Kontinent Bernhard. Zur Thomas-Bernhard-Rezeption in Europa. Wien u. a. 1995, 31-43. - Fenyves, Miklós: Lokales. Zu Thomas Bernhards Der Stimmenimitator. In: Attila Bombitz u. a. (Hg.): Österreichische Literatur ohne Grenzen. Gedenkschrift für Wendelin Schmidt-Dengler. Wien 2009, 105-125. - Hossfeld, Joachim: Thomas Bernhard: Der Stimmenimitator. In: Literatur und Kritik 14 (1979), H. 136/137, 435-436. - Huntemann, Willi: Wandlungen des Makabren bei Thomas Bernhard, dargestellt anhand seiner Kurzprosa. In: Filologia germanska 20. Torun 1995, 27-43. - Kahl, Kurt: Das Seltsame am Rande des Abgrunds. In: Kurier, 26.11.1978. - Plow, Geoffrey: The affliction of prose: Thomas Bernhard's critique of self-expression in Korrektur, Ja and Der Stimmenimitator. In: German Life and Letters 44 (1991), H. 2, 133-142. - Schmidt-Dengler, Wendelin: Verschleierte Authentizität. Über Thomas Bernhards Der Stimmenimitator. In: Kurt Bartsch, Dietmar Goltschnigg und Gerhard Melzer (Hg.): In Sachen Thomas Bernhard. Königstein/Ts. 1983, 124-147. - Ders.: Der Übertreibungskünstler. Wien 1986. - Staengle, Peter: "Das könne er nicht." Zu Thomas Bernhards Der Stimmenimitator. In: Elmar Locher (Hg.): Die kleinen Formen in der Moderne. Innsbruck u. a. 2001, 279-298.