1999 erhielt die Autorin den österreichischen Würdigungspreis für Literatur, 2000 den Anton-Wildgans-Preis und 2009 den Kulturpreis des Landes OÖ. Reichart gilt als "kompromißlos" (Fliedl 1995, 84), ihr Buch als "klug, sensibel und stilistisch ansprechend" (Schacherreiter 2011), auch die "Detailtreue" (Kühn 2012) der Autorin wird gelobt, ihr Anspruch, (historische) Recherche (facts) und Fiktion (fiction) zu verbinden (Menhofer/Halle 2011), durch den sie ein veritables "kulturhistorisches Dokument" (Riebler 2012) geschaffen habe.
Mit Die Voest-Kinder schreibt Elisabeth Reichart ihre literarische Sittengeschichte Oberösterreichs fort, die sie mit Romanen wie Februarschattenund Komm über den See in eindrucksvoller Weise begonnen hatte. Im Fall der Voest-Kinder wird dieses Unternehmen als Reise in eine fiktive Kindheit unternommen, die unter dem schwarzen Stern der quasi Voest-Leibeigenschaft des Vaters steht. Den Anstoß zu dem Roman hatte das Linzer StifterHaus gegeben: "Spontan kam ich auf die Voest. Ich recherchierte und es entwickelte sich diese Geschichte, in der ich auch auf meine Erfahrungen zurückgreife - und auf jene von vielen, vielen Voest-Kindern." (Reichart, zit. nach Schacherreiter 2011)
Im Zentrum des Romans steht ein junges Mädchen, das alter ego der Autorin, das seine Kindheit im Österreich der 1950er Jahre rekapituliert, von frühesten Erinnerungen mit etwa drei Jahren bis in ihre Jugendzeit. Wie schon in Februarschatten steht auch im Hintergrund dieses Romans "die zentrale Geschichtserfahrung des 20. Jahrhunderts - der Holocaust" (Gürtler 2003, 124). Eine Thematik, die in den Voest-Kindern auch und vor allem durch und über die Kinder thematisiert wird, von denen manche die Worte "Nazi" und "Hitler" allzu sorglos im Mund führen (vgl. 94f. u. 102f.).
Die Kindheit der Protagonistin steht aber auch im Schatten einer Mutter, die immer wieder verschwindet, weil sie "noch immer vor den Bomben" wegläuft (82). Die Mutter wird jedoch letztlich in all ihren Schattierungen gezeigt, einerseits als fantasiebegabte Spielgefährtin und liebende "Mami", andererseits als überforderte, genervte und zu Gewalt neigende Züchtigende (vgl. 24f. und 63-66). Immer wieder wird der Protagonistin vermittelt, dass sie eben nur ein Mädchen sei und kein Bub. "Mädchen sind dumm und böse" (110) und nur "Hälftemensch[en]" (169).
Es gibt wenige Lichtblicke in dieser Kindheit: Die Großeltern, vor allem die Großmutter, zeigen dem jungen Mädchen Wege aus der Unterdrückung und Unmündigkeit in eine Welt, in der der Satz "Du gehörst nur dir!" (199 u. 231) das Leitbild darstellt. Die Großmutter weist der Enkelin auch den Weg zum Schreiben, in dem die überaus lebendige Phantasie endlich ihre Berechtigung hat.
Wie man das von Reichart gewohnt ist, sind auch Die Voest-Kinder "sprachlich souverän gearbeitet" (Sturm 2011). So (er)findet sie für ihren Roman eine Sprache der Schlüssel- und Reizwörter, die von den Beschränkungen und Heimlichtuereien der Erwachsenen geprägt ist und die die Hauptfigur nur sehr langsam durchschaut: "Die Besonderheit von ‚Voest-Kinder‛ besteht auch darin, dass Elisabeth Reichart [...] auf spannende Weise darlegt, wie sich im Kopf des Kindes Erlebtes und Wahrgenommenes zum Weltbild formen." (Schacherreiter 2011) Kindheit erscheint bei Reichart größtenteils als eine Folge von Kränkungen, die willentlich oder auch unwillentlich ‚passieren‛. Die Autorin führt den Leser dabei zweifellos an ihre und seine eigenen Grenzen heran. Trotz der vermeintlichen lokalen Gebundenheit der Thematik gelingt es ihr, "einen Erfahrungsraum [zu eröffnen], der alles andere als nur lokal interessant ist." (Sturm 2011)
Nicole Streitler
Die Voest-Kinder. Salzburg, Wien 2011.
Fliedl, Konstanze: "Frag nicht mich, befrage die Worte". Elisabeth Reicharts Versuche, jene zum Sprechen zu bringen, die zum Schweigen gebracht wurden. In: Michael Cerha (Hg.): Literatur-Landschaft Österreich. Wien 1995, 83-84. - Gürtler, Christa: Die Faszination des Vergessenen. In: Hildegard Kernmayer, Petra Ganglbauer (Hg.): Schreibweisen. Poetologien. Die Postmoderne in der österreichischen Literatur von Frauen. Wien 2003, 123-130. - Riebler, Eva: Elisabeth Reichart: MIt den Augen und Ohren eines Kindes. In: Etcetera 47, März 2012. - Schacherreiter, Christian: Die Voest-Kinder: Dummes Mädchen? Böses Mädchen? Sünderin? In: Oberösterreichische Nachrichten, 21.09.2011. - Sturm, Helmut: Elisabeth Reichart: Die Voest-Kinder. In: Buchmagazin des Literaturhaus Wien, 09.11.2011. - Waldinger, Ingeborg: Gegen das Schweigen. Elisabeth Reicharts Die Voest-Kinder. In: Neue Zürcher Zeitung, 23.2.2012.