Elisabeth Reicharts Debütroman hat ihr sogleich einen festen Platz im Kanon der österreichischen Gegenwartsliteratur gesichert. So ist da von der "unbarmherzig auf- und umrührenden Heimatkunde" (Strigl 1992, 35) die Rede, der sich Reichart verschrieben habe. Gerhard Rühm bezeichnet sie gar als "autorin von unbestechlicher intelligenz und unbedingter leidenschaft" und als "herausragende stilistin" (Rühm 1995, 82f.).
Der Roman handelt von der sogenannten "Mühlviertler Hasenjagd", die wie ein Schatten, eine traumatische Erinnerung, auf der Hauptfigur Hilde lastet. In einem Verweis auf den "historische[n] hintergrund" am Ende des Buches heißt es dazu: "in der nacht zum 2. februar 1945 brachen ca. 500 der 570 häftlinge aus der sonderbaracke 20 des KL MAUTHAUSEN aus. in der baracke waren vor allem sowjetische offiziere. bis heute wurden 17 überlebende eruiert. Alle anderen wurden von den nationalsozialisten und von bis dahin 'unpolitischen' mühlviertlern ermordet. wenige mühlviertler wagten zu helfen." (185)
Im Roman wird die Auseinandersetzung mit diesem historischen Hintergrund in künstlerisch sehr reflektierter Weise betrieben. Erika, die Tochter der Hauptfigur, schreibt ein Buch über ihre Mutter Hilde und befragt diese nach ihrer Rolle in der "Mühlviertler Hasenjagd". Das Buch zeichnet die Schwierigkeit des Erinnerns nach, das auf ein von oben verordnetes bzw. selbst auferlegtes Vergessen und Verdrängen folgt. Hilde hat sich in einem persönlichen Gewissenskonflikt zwischen ihrem geliebten Bruder Hannes, der sich dem Morden widersetzte und einen Flüchtling versteckte, und Deutschland entscheiden müssen. Sie entscheidet sich schließlich für Deutschland und verrät damit ihren Bruder, wie angedeutet wird. Dieser wird vom nationalsozialistischen Ortsgruppenführer Pesendorfer abgeholt und verprügelt. Am Tag darauf erhängt sich Hannes an einem Baum. Ein Ereignis, das wie die Menschenjagd wie ein Schatten in Hildes Unbewusstem haften bleibt: "Baumschatten, Menschenschatten, Geräuschschatten" (7). Das Buch betreibt in einem quasi psychoanalytischen Prozess die Aufdeckung dieser verschütteten tragischen Ereignisse.
Reichart hatte sich bereits in ihrer Dissertation mit dem Titel Heute ist morgen. Fragen an den kommunistisch organisierten Widerstand im Salzkammergut (1983) mit dem Nationalsozialismus beschäftigt (vgl. auch Komm über den See). Schon dort findet sich der von der 'oral history' geprägte Gestus des Befragens der älteren Generation durch die nachgeborene, ein Gestus, der die deutschsprachige Nachkriegsliteratur, insbesondere die "Väter- (und Mütter-)Bücher of the late seventies" (Fliedl 1996, 252) prägt. Reichart gelinge es jedoch in ihrem Roman, schreibt Christa Wolf in ihrem Nachwort, den verurteilenden Standpunkt, wie er für die Nachkriegsliteratur typisch ist, zu vermeiden. Ihre "eigentliche künstlerische Leistung" bestünde darin, "daß ein anderer Umgang mit Menschen als der mörderische, über den sie schreibt, nicht deklariert wird, sondern als aufmerksames Verhalten der Autorin zu ihren Figuren in die innerste Struktur dieses Buches eingegangen ist" (Wolf 1995, 119).
Februarschatten ist nicht zuletzt auch ein Roman über eine problematische Mutter-Tochter-Beziehung mit autobiografischem Hintergrund. Die Tatsache, dass die Tochter ein Buch über sie schreibt, verstört die Mutter und wird von ihr letztlich als egoistisches Vorgehen der Tochter interpretiert: "Kommt Erika meinetwegen öfter oder wegen des Romans, den sie über mich schreibt? / Fragt Erika wieder so viel nach früher, weil sie sich für mich interessiert oder weil sie die Antworten für ihr Buch braucht. Sicher war es nur wegen des Buches. / Es kann nicht meinetwegen sein. / Erika hat sich noch nie für mich interessiert. Um mich bemüht sie sich erst, seitdem sie dieses Buch schreibt. Ein Buch über mein Leben. / Was sollte es darüber zu schreiben geben? / Niemand wollte so ein trauriges Leben vorgeführt bekommen. / Jeder wollte so ein trauriges Leben vergessen." (39f.) Reicharts Buch handelt also auch einfach von einem Frauenleben auf dem Land. Sätze wie die zitierten erinnern an Peter Handkes Wunschloses Unglück (1972), dem Februarschatten als weibliches Pendant an die Seite gestellt werden kann.
Nicole Streitler
Februarschatten. Roman. Wien 1984 [Referenzausgabe] (Neuauflage mit einem Nachwort von Christa Wolf. Salzburg, Wien 1995).
Böhmel Fichera, Ulrike: "Aus dem Dunkel des Vergessens aufgestört". Vergangenheitsbewältigung in den Texten deutschsprachiger Autorinnen der achtziger Jahre. Tübingen, Basel 1992. - Cornejo, Renata: Das Dilemma des weiblichen Ich. Untersuchungen zur Prosa der 1980er Jahre von Elfriede Jelinek, Anna Mitgutsch und Elisabeth Reichart. Wien 2006. - DeMeritt, Linda; Ensberg, Peter: "Für mich ist die Sprache eigentlich ein Schatz". Interview mit Elisabeth Reichart. In: Modern Austrian Literature 29 (1996), H. 1, 1-22. - Fliedl, Konstanze: "Frag nicht mich, befrage die Worte". Elisabeth Reicharts Versuche, jene zum Sprechen zu bringen, die zum Schweigen gebracht wurden. In: Michael Cerha (Hg.): Literatur-Landschaft Österreich. Wien 1995, 83f. - Dies.: Etymology of Violence: Elisabeth Reichart's Prose. In: Arthur Williams, Stuart Parkes and Julian Preece (ed.): Contemporary German Writers, Their Aesthetics and Their Language. Bern 1996, 251-266. - Hertling, Viktoria: Bereitschaft zur Betroffenheit. Neueste österreichische Prosa über die Jahre 1938 bis 1945. In: German Studies Review 14 (1991), 275-291. - Rühm, Gerhard: Prosa von erhöhter Temperatur. In: Michael Cerha (Hg.): Literatur-Landschaft Österreich, a.a.O., 82f. - Wigmore, Juliet: "Vergangenheitsbewältigung" in Austria: The Personal and the Political in Erika Mitterer's Alle unsere Spiele and Elisabeth Reichart's Februarschatten. In: German Life and Letters 44 (1991), H. 5 (Special Number: Women's Studies), 477-487. - Wolf, Christa: Struktur von Erinnerung. In: Elisabeth Reichart: Februarschatten. Salzburg, Wien 1995, 117-119.