Reichart studierte Germanistik und Geschichte in Salzburg und Wien. Nach längeren Auslandsaufenthalten in Japan und den USA lebt sie als freie Schriftstellerin in Wien.
Vor allem in ihrem Frühwerk ist sie eine sprachlich und inhaltlich radikale Autorin, die sich an die großen Themen der (ober-)österreichischen Gesellschaft heranwagt, etwa an die Verdrängung der nationalsozialistischen Gräueltaten oder an die alltäglichen Misshandlungen, von denen das Geschlechterverhältnis geprägt ist. Gerhard Rühm bezeichnet Reichart in einem kurzen Text mit dem symptomatischen Titel Prosa von erhöhter Temperatur als "autorin von unbestechlicher intelligenz und unbedingter leidenschaft" und als "herausragende stilistin". Insbesondere ihr Buch Fotze habe "alles [...], um ein 'kultbuch' zu werden", und es ist ihm "unverständlich, warum es das - zumindest bei feministinnen und feministen - nicht gleich nach erscheinen geworden ist." (Rühm 1995, 82f.) Konstanze Fliedl hält Reicharts Prosa im besten Sinne für "kompromißlos" (Fliedl 1995, 84).
Einer größeren literarischen Öffentlichkeit wurde die Autorin bereits mit ihrem Debütroman Februarschatten(1984) bekannt. Das Buch handelt von der sogenannten "Mühlviertler Hasenjagd", einer Jagd der oberösterreichischen Bevölkerung der Gegend Mauthausen nach aus dem KZ entflohenen sowjetischen Kriegsgefangenen, von denen viele für ihren Fluchtversuch mit dem Leben bezahlen mussten. Das Buch stellt als ein Beitrag zum Thema Vergangenheitsbewältigung (vgl. Wigmore 1999), Erinnerung und Vergessen eines der zentralen Werke der österreichischen Literatur der 1980er Jahre dar, in denen durch die Waldheim-Affäre die Problematik des Umgangs der Österreicher mit ihrer NS-Vergangenheit eine völlig neue Aktualität gewann.
Auch in der Erzählung Komm über den See (1988), die vordergründig von einer Lehrerin handelt, die als Karenzvertretung von Wien nach Gmunden geht, spielt die Problematik von Krieg und Verdrängung eine zentrale Rolle. Reichart verarbeitet in dem Text Fakten über den weiblichen Widerstand, die sie in wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Thema in den 1970er und frühen 80er Jahren gesammelt hat, insbesondere in ihrer Dissertation mit dem Titel Heute ist morgen. Fragen an den kommunistisch organisierten Widerstand im Salzkammergut (Salzburg 1983).
Im Erzählband La Valse (1992) setzt sich Reichart in den Texten Wie nah ist Mauthausen? und Wie fern ist Mauthausen? neuerlich mit dem Thema Nationalsozialismus auseinander. Ansonsten finden sich in dem Band vor allem Texte, die das Geschlechterverhältnis und die dominante männliche Sexualität thematisieren, die "Verwaltung - und Vergewaltigung - durch die Männer, die Väter" (Strigl 1992, 35), eine Problematik, die sich auch in der gesondert erschienenen Erzählung Fotze (1993) wieder findet. Diese stellt einen sprachlich und thematisch radikalen Text dar, eine "Etüde über die obszöne, kranke Sprache" (Fliedl 1995, 84), in der sich die Autorin mit der (weiblichen) Sexualität und ihrer Benennung durch die (männliche) Sprache auseinandersetzt. Außerdem wird in Fotze eine Thematik wieder aufgegriffen, die Reichart bereits in ihrem Debütroman Februarschatten beschäftigt hat: die Mutter-Tochter-Beziehung, die in diesem Text jedoch in ihrer körperlich-kruden Dimension ausgelotet wird.
Auch der unmittelbar darauf erschienene "Monolog" Sakkorausch (1994) variiert die Thematik weiblicher (sexueller) Unterdrückung, allerdings in einer poetisch verschlüsselten, blumigen Sprache, die sich palimpsestartig in Texte der Frauenrechtlerin Helene von Druskowitz, die u. a. unter dem Pseudonym H. Sakkorausch publizierte, einschreibt.
Mit dem Roman Nachtmär (1995) setzt Reichart gewissermaßen beide Linien ihres Frühwerks fort, anhand der Figur der Jüdin Esther die Problematik von Rassismus und Verfolgung und anhand der Figuren Marlen, Paula, Rudolf und Ingram Fragen des Geschlechterverhältnisses und der gesellschaftlichen Rollenverteilung zwischen Mann und Frau.
Die jüngsten Werke Reicharts, Das vergessene Lächeln der Amaterasu (1998), das Kinderbuch Lauras Plan (2004) und Das Haus der sterbenden Männer (2004) fügen sich stärker in das Konzept eines konventionellen Erzählens, arbeiten aber in je spezifischer Weise an den großen Themen der Autorin weiter. Zuletzt erschien Die unsichtbare Fotografin (2008).
1999 erhielt sie den österreichischen Würdigungspreis für Literatur, 2000 den Anton-Wildgans-Preis und 2009 den Kulturpreis des Landes OÖ.
Nicole Streitler
Februarschatten. Roman. Wien 1984 (Neuauflage mit einem Nachwort von Christa Wolf: Salzburg, Wien 1995). - Komm über den See. Erzählung. Frankfurt/Main 1988 (Neuauflage: Wien 2001). - La Valse. Erzählungen. Salzburg, Wien 1992. - Fotze. Erzählung. Salzburg, Wien 1993. - Sakkorausch. Ein Monolog. Salzburg, Wien 1994. - Nachtmär. Salzburg, Wien 1995. - Das vergessene Lächeln der Amaterasu. Roman. Berlin 1998 (Neuauflage: Salzburg 2014). - Lauras Plan. St. Pölten u. a. 2004. - Das Haus der sterbenden Männer. Roman. Salzburg, Wien 2005. - Die unsichtbare Fotografin. Salzburg 2008. - Die Voest-Kinder. Salzburg 2011. - In der Mondsichel und anderen Herzgegenden. Gedichte. Salzburg 2013. - Frühstück bei Fortuna. Roman. Salzburg 2016.
Cornejo, Renata: Das Dilemma des weiblichen Ich. Untersuchungen zur Prosa der 1980er Jahre von Elfriede Jelinek, Anna Mitgutsch und Elisabeth Reichart. Wien 2006. - DeMeritt, Linda; Ensberg, Peter: "Für mich ist die Sprache eigentlich ein Schatz": Interview mit Elisabeth Reichart. In: Modern Austrian Literature 29 (1996), H. 1, S. 1-22. - Fliedl, Konstanze: "Frag nicht mich, befrage die Worte". Elisabeth Reicharts Versuche, jene zum Sprechen zu bringen, die zum Schweigen gebracht wurden. In: Michael Cerha (Hg.): Literatur-Landschaft Österreich. Wien 1995, 83-84. - Dies.: Etymology of Violence: Elisabeth Reichart‘s Prose. In: Contemporary German Writers, Their Aesthetics and Their Language. Edited by Arthur Williams, Stuart Parkes and Julian Preece. Bern 1996, 251-266. - Gürtler, Christa (Hg.): Porträt Elisabeth Reichart (= Die Rampe 2013, H. 3). - Rühm, Gerhard: Prosa von erhöhter Temperatur. In: Michael Cerha (Hg.): Literatur-Landschaft Österreich. Wien 1995, 82-83. - Strigl, Daniela: Unbeholfene Heldinnen. In: NÖ-Journal, Nr. 110 (Juni 1992), 35f. - Wigmore, Juliet: "Vergangenheitsbewältigung" in Austria: The Personal and the Political in Erika Mitterer‘s Alle unsere Spiele and Elisabeth Reichart‘s Februarschatten. In: German Life and Letters. Special Number: Women‘s Studies 44 (1991), No. 5, S. 477-487.