Trotz drückender Armut konnte May die Ausbildung zum Volksschullehrer absolvieren, geriet jedoch aufgrund materieller Not und psychischer Verstörung auf die schiefe Bahn. Mehrere Diebstähle, Betrügereien und Hochstapeleien trugen ihm Freiheitsstrafen von insgesamt acht Jahren ein. Während der Haft begann er zu schreiben und wandte sich nach der Entlassung (1874) dem Schriftstellerberuf zu. Der Durchbruch gelang ihm mit seinen "Reiseerzählungen", die ab 1892 in Buchform erschienen. In Ich-Form schildert May dort die Abenteuer seines Helden im Wilden Westen und im Orient. Er bettete diese fiktiven Erlebnisse in überzeugend klingende geo- und ethnografische Kontexte ein und gestaltete sie derart suggestiv, dass der österreichische Autor Peter Rosegger 1877 die Erzählung Die Rose von Kahira in seine Zeitschrift Heimgarten aufnahm. An Robert Hamerling schrieb er über May: "Seiner ganzen Schreibweise nach halte ich ihn für einen vielerfahrenen Mann, der lange im Orient gelebt haben muß." (zit. nach Roxin 1987, 9)
Diese Bemerkung verweist bereits auf die Phase der "Old-Shatterhand-Legende", die ihren Höhepunkt in den 1890er Jahren hatte und mit Linz eng verbunden ist. Ihre Grundlage bilden neben eigens angefertigten Kleidungsstücken und Waffen die "Kostümphotos", die May beim Linzer Alois Schiesser (auch: Schießer, 1866-1945) in Auftrag gab und die vom Foto-Atelier Nunwarz (Linz-Urfahr, Fischergasse 13) sowie vom Linzer Verlagsbuchhändler Fidelis Steurer (1853-1907) vertrieben wurden. Schiesser avancierte bis zum Landes-Rechnungsdirektor und Leiter des "Landes-Stenographenamtes". 1896 kam es zum Briefwechsel mit May, der Schiesser 1896 einlud, seine Osterferien in der "Villa Shatterhand" zu verbringen. Schiesser dürfte sich in Leipzig um die Finanzierung seines weiteren Studiums bemüht haben, May bot ihm an, Geldmittel vorzuschießen, Schiesser könne dafür seine Bibliothek ordnen, müsse aber unbedingt seine fotografischen Apparate mitbringen. Bei diesem Aufenthalt entstanden dann 101 Fotografien ("Kostümphotos", Fotos in "Zivil" sowie "Scherzaufnahmen".
Schiesser schlug May vor, die Ausarbeitung dem Urfahrer Fotografen Adolf Nunwarz (1868-1931) zu überlassen. Dieser erhielt am 24. Juni 1896 das vertragliche Recht, die Fotografien zu vertreiben. Der dritte Linzer, der an der Festigung der "Old-Shatterhand-Legende" mitwirkte, war der gebürtige Allgäuer Fidelis Steurer, Besitzer der Buchhandlung Isling, vormals Fink (Schmidtorstraße 5); er übernahm den Foto-Vertrieb für die Buchhändler.
Nunwarz und Steurer verdienten an der Geschäftsverbindung mit May gut. Bis Anfang 1898 gab es geschäftliche Beziehungen zwischen Autor und Fotograf. Als May jedoch am 21. März, aus Wien kommend, im Linzer Hotel "Roter Krebs" (Obere Donaulände 11) abstieg, besuchte er Steurer am folgenden Tag und lehnte ab, dass dieser Postkarten von ihm verlege.
1899 brach May zu einer Orientreise auf, von der er im Sommer 1900 als Verwandelter zurückkehrt. Die Begegnung mit realen Handlungsorten seiner Bücher führte zu einem traumatischen Schock. Er entwickelte nun die Mystik des "Spätwerks" und trat gegen Imperialismus und Rassismus sowie religiöse Intoleranz auf. Die "Old-Shatterhand-Legende" wurde aufgegeben und die Fotos beseitigt. 1902 kam May nach Linz, wohnte wieder im "Roten Krebs" und versenkte an einem Morgen gemeinsam mit Nunwarz (unklar ist, ob mit Alois oder dessen Bruder Franz) alle fotografischen Platten Schiessers in der Donau.
Dennoch korrespondierte May auch weiterhin mit Schiesser. In seinen letzten Lebensjahren verstrickte er sich zunehmend in Prozesse und Pressefehden, die seine Gesundheit zermürbten. Acht Tage vor seinem Tod ergab sich ein letzter Österreich-Bezug: Am 22. März 1912 hielt er im Wiener Sophiensaal einen umjubelten Vortrag, in dem er den Pazifismus der anwesenden Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner (1843-1914) würdigte.
Markus Kreuzwieser
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