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Korrektur

Cover der Erstausgabe 1975

Roman von Thomas Bernhard, erschienen 1975 im Suhrkamp Verlag (Frankfurt/Main).

Der Kobernaußerwald, das Höllerhaus an der Aurachengstelle, das Familiengut in Altensam - Thomas Bernhards vierter Roman ist fest eingeschrieben in die oberösterreichische Topografie. Freilich schreibt Bernhard keine Lokalgeschichte dieser Orte, sondern sie stehen als pars pro toto u. a. für die österreichische Geschichte. Wie so oft treibt Bernhard ein raffiniertes Spiel mit Realitätspartikeln, die er in den jeweiligen fiktionalen Kontext einschmilzt: So auch beim Protagonisten des Romans, Roithamer, dem Erben des Gutes Altensam, dessen Ansichten, dessen Leben und Selbstmord ein Freund, der sich dazu in die Dachkammer des Tierpräparators Höller zurückzieht, aus Roithamers Nachlass zu rekonstruieren versucht.

Unverkennbar trägt Roithamer Züge des Philosophen Ludwig Wittgenstein. Der Roman spielt mit dem Oszillieren zwischen Identität und Differenz von Roithamer und Wittgenstein, wenn es etwa vom Protagonisten heißt, er lese bevorzugt die Schriften Wittgensteins, "weil er in ihm sich selbst zu erkennen glaubte, [...] welcher aus der gleichen Landschaft wie Roithamer gekommen und immer ein aufmerksamer Beobachter der roithamerschen Landschaft gewesen war" (57). In einem der seltenen Texte Bernhards über ein eigenes Werk, der nach Verzögerungen bei der Abgabe des Manuskripts auf dringenden Wunsch Siegfried Unselds als Grundlage für einen Ankündigungstext des Suhrkamp Verlags diente, brachte er das auf die paradoxe Formel: "er ist nicht Wittgenstein, aber er ist Wittgenstein" (NLTB, W 4/3, Bl. 1v).
Roithamer, so der Erzähler, war "sechzehn Jahre in England [...] in Cambridge" (8), er verfügt über ein "ihm auf einmal zugefallenes Erbe" und baut für seine Schwester ein Haus im "Mittelpunkt des Kobernaußerwaldes" (17). Zwischen dem Wohnkegel Roithamers und dem Haus Wittgensteins für seine Schwester Margarete Stonborough, an dessen Planung und Bauausführung Ludwig Wittgenstein von 1926-28 zusammen mit Paul Engelmann gearbeitet hat, lassen sich eine Reihe von Analogien herstellen. Wichtiger als die bloßen Parallelen sind allerdings die spezifisch Bernhard'schen Modifikationen des vorgefundenen Materials. Verabsolutierung bestimmt den Kegel als solchen: Bernhard führt die Reduktion der Formen, die beim Wittgenstein-Haus zu beobachten ist, ins Extrem - das Haus wird zum mathematischen Körper. Korrektur stellt darüber hinaus eine "Apotheose des Bauens" (Höller 1993, 89) dar, in der sich Bernhards eigene Bauprojekte spiegeln: der Vierkanthof in Obernathal, Gemeinde Ohlsdorf, die "Krucka" am Grasberg in der Nähe von Gmunden, schließlich das Haus in Ottnang mit Blick auf Schloss Wolfsegg (Auslöschung).

Für Roithamer kommt dem Kegel die Funktion eines Gegen-Altensam zu, bildet er den Versuch, das Glück der Schwester (und wohl auch sein eigenes) zu erzwingen durch die Konzentration von Wissenschaft, Kunst und Philosophie auf ein Unternehmen: "Wenn sie erst den Kegel sieht, muß sie glücklich sein, so Roithamer, muß sie glücklich sein, unterstrichen." (197) Lässt sich in der Folge zwar nicht entscheiden, ob der Tod der Schwester in ursächlichem Zusammenhang mit dem Kegelbau steht, so ist jedenfalls das Glücksexperiment gescheitert. Denn Roithamers Umwertung des Todes der Schwester zu höchstem Glück liest sich zu deutlich als bloße Hilfskonstruktion zur Umgehung der Einsicht in sein Scheitern. Sein Selbstmord lässt sich verstehen als ein Zeichen für die Insuffizienz dieser Konstruktion, dessen Erklärung zur endgültigen Korrektur als ein letzter verzweifelter Versuch einer Sinngebung, wo keine mehr möglich ist.
Dies ist zugleich eine entscheidende Differenz zwischen der fiktiven Figur Roithamer und Wittgensteins Philosophie. Die Pointe seines Tractatus logico philosophicus liegt ja gerade in der Begrenzung des wissenschaftlich Sagbaren, wenn es in Satz 6.52 heißt, "selbst wenn alle wissenschaftlichen Fragen beantwortet wären, wären unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt". Roithamer und der Erzähler verschließen sich einer analogen Einsicht in die Unmöglichkeit einer "mathematischen" Konstruktion des Lebens; Thomas Bernhards Roman Korrektur als ganzer jedoch - um mit dem Tractatus zu sprechen - zeigt sie.

Martin Huber

 

Korrektur. Hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt/Main 2005 (= Thomas Bernhard: Werke. Hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler, Bd. 4). - Nachlass Thomas Bernhard, Thomas-Bernhard-Archiv, Gmunden (zit. als NLTB).

Barthofer, Alfred: Wittgenstein mit Maske. Dichtung und Wahrheit in Thomas Bernhards Roman Korrektur. In: Österreich in Geschichte und Literatur 23 (1979), 186-207. - Fraund, Thomas: Bewegung - Korrektur - Utopie. Studien zum Verhältnis von Melancholie und Ästhetik im Erzählwerk Thomas Bernhards. Frankfurt/Main u. a. 1986. - Gößling, Andreas: Thomas Bernhards frühe Prosakunst. Entfaltung und Zerfall seines ästhetischen Verfahrens in den Romanen Frost - Verstörung - Korrektur. Berlin u. a. 1987. - Höller, Hans: Thomas Bernhard. Reinbek bei Hamburg 1993. - Judex, Bernhard: "Tausende von Umwegen". Thomas Bernhards Roman Korrektur im Lichte der Philosophie Martin Heideggers und die Rekonstruktion seiner Entstehung aus dem Nachlass. In: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft 35 (2004), 2. Halbbd., 269-285. - Jurgensen, Manfred: Thomas Bernhard. Der Kegel im Wald oder die Geometrie der Verneinung. Bern u. a. 1981. - Kohlenbach, Margarete: Das Ende der Vollkommenheit. Zum Verständnis von Thomas Bernhards Korrektur. Tübingen 1986. - Mauch, Gudrun B.: Thomas Bernhards Roman Korrektur: Die Spannung zwischen dem erzählenden und dem erlebenden Erzähler. In: Österreich in Geschichte und Literatur 23 (1979), 207-219. - Rietra, Madeleine: Zur Poetik von Thomas Bernhards Roman Korrektur. In: Kurt Bartsch, Dietmar Goltschnigg und Gerhard Melzer (Hg.): In Sachen Thomas Bernhard. Königstein/Ts. 1983, 107-123.