Im zweiten Teil seines Romans Krieg und Frieden verhilft Leo Tolstoi Österreich, insbesondere Oberösterreich, zur Ehre eines weltliterarischen Schauplatzes: Im Oktober 1805 dient Braunau im Dritten Koalitionskrieg gegen Napoleon dem mit der österreichischen Armee verbündeten rund 35.000 Mann starken russischen Heer als Hauptquartier. Fürst Andrej Bolkonskij fungiert als Adjutant des Oberkommandierenden General Kutusow, dem der Autor bei der Inspektion eines Infanterieregiments einen ersten großen Auftritt gewährt: "Obwohl die Landschaft mit ihren Obstgärten, steinernen Mauern, Ziegeldächern und den Bergen in der Ferne ganz unmusisch war, so sah doch das Regiment genauso so aus, wie jedes russische Regiment, das sich irgendwo im Herzen von Rußland auf eine Besichtigung vorbereitet." (185)
Während das russische Oberkommando Nachricht von der vernichtenden Niederlage erhält, die Napoleon den österreichischen Truppen unter General Mack bei Ulm beigebracht hat, liegt die Husaren-Eskadron, der Nikolaj Rostow angehört, einige Kilometer von Braunau entfernt im (nicht existierenden) Dorf Salzeneck. Der junge Graf Rostow, der sich mit seinem "deutschen" Quartierwirt bestens versteht, ist in einen Ehrenhandel verwickelt, als der Befehl zum Rückzug kommt.
Kutusow zog seine Truppen Richtung Wien zurück, an dessen Verteidigung freilich nicht mehr zu denken war, und ließ, wie Tolstoi berichtet, hinter ihnen die Brücken über den Inn (bei Braunau) und über die Traun (bei Linz) abbrechen. "Am 23. Oktober überschritten die russischen Truppen die Enns. Russischer Train, Artillerie und Heereskolonnen durchzogen gegen Mittag die Stadt Enns, auf beiden Seiten der Brücke." (228)
"Wenigstens ein bißchen Angst machen müßte man doch den Nönnchen. Es sollen junge Italienerinnen dabei sein" (229), scherzen die russischen Offiziere auf einer Anhöhe. Mag die Szenerie, die sich dem Kommando der russischen Nachhut darbietet - der Zusammenfluss von Donau und Enns, das Schloss und das namentlich nicht genannte Kloster auf einem Berg (St. Florian) - auch nicht topografisch exakt sein, so wirken die Verwirrungen um den Rückzug und das Gefecht um die Ennsbrücke authentisch. Nikolaj Rostow, der sich in seiner lang herbeigesehnten Feuerprobe gegen die nachrückenden Franzosen zunächst bewährt, wird, als er mit seiner Eskadron umkehren muss, um die Brücke befehlsgemäß in Brand zu setzen, von plötzlicher Todesangst gepackt und erlebt eine Schlüsselszene des Romans: "Wie schön erschien ihm der Himmel, wie blau, wie ruhig und tief! [...] Wie freundlich glänzte und blinkte das Wasser in der fernen Donau! [...] Nur ein Augenblick, - und nie mehr werde ich diese Sonne sehen, dieses Wasser, diese Schluchten ...". (249)
Unter weiteren Kämpfen zog die russische Armee sich sodann immer schneller über Lambach, Amstetten und Melk zurück. Von einem Etappensieg über die Division Mortier bei Dürnstein und Loiben darf Fürst Andrej Bolkonskij dem österreichischen Kriegsminister Meldung machen.
Daniela Strigl
Tolstoi, Leo: Krieg und Frieden. Roman. Aus dem Russischen von Erich Boehme. Bd. 1. Zürich 1991.
Wallner, Peter; Dox, Georg: Franzosen und Russen im Herbst 1805 in Oberösterreich. Historische Studien zum zweiten Teil von Leo N. Tolstois Roman Krieg und Frieden. In: Oberösterreichische Heimatblätter 17 (1963), H. 1/2, 3-16.