Als scharfsinnige Beobachterin des österreichischen Hof- und Provinzadels und subtile Porträtistin führender Persönlichkeiten aus dem Bereich der Politik, Kunst und Literatur hinterließ sie ein Werk, das zum Kanon der weiblichen Autobiografik des 19. Jh. zählt.
Ihr Vater, Josef Wenzel Graf Thürheim, war Abkömmling eines alten schwäbischen Geschlechts, ihre Mutter, Luise Gräfin Berghe von Trips, entstammte dem niederrheinischen Adel. Zum Besitz der Thürheims gehörten in Oberösterreich seit dem Beginn des 17. Jh. u. a. die Schlösser Weinberg bei Kefermarkt, Hartheim (vgl. dazu auch Schattenschweigen oder Hartheim), Schwertberg und Windegg. Als die Französische Revolution auf Flandern übergriff, sahen sich die Thürheims gezwungen, 1790 vorübergehend von dort nach Deutschland zu fliehen, um 1794 endgültig zu emigrieren. Im selben Jahr ließ sich die Familie auf Schloss Schwertberg nieder, wo sie die Sommermonate verbrachte. Im Winter hingegen übersiedelte sie nach Wien, um dort am mondänen Leben teilzunehmen. Lulu Thürheim erhielt Privatunterricht, u. a. von ihrem Vater, der mit seinem jähzornigen Wesen Frau und Kinder einschüchterte. Während er die Töchter zum Studium der Naturwissenschaft drängte, entdeckte die spätere Schriftstellerin bald ihre Liebe zur Literatur und Malerei. In der Folge begann sie, Tagebuch zu führen und Miniaturen anzufertigen, die sie gelegentlich verkaufte.
1813/14 unternahm Thürheim eine Reise nach Galizien, der weitere ausgedehnte Fahrten durch Europa folgen sollten. Nach der Heirat ihrer Lieblingsschwester Konstantine mit dem ehemaligen russischen Botschafter Graf Andreas Rasumoffsky im Jahr 1816 bezog sie gemeinsam mit dem Paar ein Palais in Wien. In der Hauptstadt lernte sie auch den englischen Hofmaler Sir Thomas Lawrence (1769-1830) kennen, der ihre künstlerische Entwicklung nachhaltig beeinflusste. In Begleitung ihres Schwagers besuchte Thürheim 1819/20 Russland. Der Aufenthalt wurde im Tagebuch und auf Zeichnungen dokumentiert - eine Praxis, die sie beibehalten sollte. Als sich Rasumoffsky aufgrund seiner angespannten pekuniären Situation gezwungen sah, den Wohnsitz in Wien aufzugeben, intensivierte Lulu ihre Reisetätigkeit. 1822 begab sie sich nach Italien, wo sie sich vorwiegend in Rom aufhielt. Drei Jahre später reiste sie über die Lombardei und den französischen Jura nach Paris, wo sie, abgesehen von einem Abstecher nach Südengland 1825/26, verweilte. 1826 kehrte sie nach Österreich zurück. Bis 1840 hielt sie sich überwiegend in Wien auf und verkehrte mit Prominenten aus aller Welt. Namentlich die Begegnungen mit dem griechischen Freiheitskämpfer Ypsilanti, Fürst Metternich und dem Herzog von Reichstadt übten tiefe Wirkung aus.
Lulu, die sich zeitlebens geweigert hatte, eine Konventionsehe zu schließen, ging 1832 eine Mesalliance mit dem fünfzehn Jahre jüngeren Charles Thirion (1803-1832) ein. Der heimlich geschlossene Ehebund endete nur acht Monate später durch den Selbstmord des Gatten. Unter dem Eindruck der Ereignisse zog sich die Witwe als Residenzialstiftsdame in ein Kloster in Brünn zurück, das sie ein Jahr später wieder verließ.
Privat häuften sich die Unglücksfälle. Rasumoffsky starb 1836, darüber hinaus kühlte sich das Verhältnis zu Konstantine ab. 1836-40 wohnte Thürheim abwechselnd in Wien, Kärnten und Schwertberg. Eine ausgedehnte Italienrundreise, die von 1840 bis 1842 dauerte, führte abermals zu den Kunststätten Roms, die sie 1854 ein letztes Mal besuchte. 1852 beendete Thürheim ihr Tagebuch, das ebenso wie ihr übriger schriftlicher und bildnerischer Nachlass laut testamentarischer Verfügung fünfzig Jahre unter Verschluss gehalten werden sollte. René van Rhyn (alias Philipp von Blittersdorff) übersetzte und edierte 1913/14 die "vollkommen authentischen Erinnerungen" (4, 145) Lulu Thürheims unter dem Titel Mein Leben.
Walter Wagner
Mein Leben. Erinnerungen aus Österreichs großer Welt. Hg. und übers. von René van Rhyn (Philipp von Blittersdorff). 4 Bde. München 1913/14.
Lulu von Thürheim (1788-1864). Katalog des OÖ Landesmuseums zur Ausstellung "Malerentdeckungen - Rudolf Pühringer, Lulu von Thürheim" in der OÖ Landesgalerie vom 19. Juli bis 27. August 1995. - Pawlik, Maria: Emigranten der Französischen Revolution in Österreich (1789-1814). Diss. Universität Wien 1967. - Solovieff, Georges: Madame de Staël vue par la comtesse Lulu von Thürheim. In: Cahiers staëliens 41 (1989/90) (Madame de Staël et l'Autriche), 73-80. - Wagner, Walter: Emigrantinnen der Französischen Revolution im Exil in Wien. In: Frank Estelmann und Olaf Müller (Hg.): Exildiskurse der Romantik in der europäischen und lateinamerikanischen Literatur. Tübingen 2011, 17-27.