Biografisch ist die erst nach ihrem Tod als Lyrikerin und als Goethes ‚Suleika‘ berühmt gewordene Marianne von Willemer schwer zu fassen. Die spärlich überlieferten Zeugnisse aus ihren ersten Lebensjahren haben, gemeinsam mit den nicht immer zuverlässigen ‚mündlichen Nachrichten‘ (Briefwechsel 1877, IX), wiederholt Anlass zu Spekulationen insbesondere über ihren Vater und ihren Geburtsort gegeben. Noch heute findet sich, als Dokument dieser Mutmaßungen, auf dem Linzer Pfarrplatz eine 1930 von der Stadt Frankfurt gestiftete Gedenktafel, die nach heutigem Stand sowohl in Bezug auf das Geburtshaus als auch auf den Vater irrt. Ihren eigenen Angaben zufolge sei Marie Anne Katharine Theresia Jung "Herrn Matthias Jung und dessen noch lebenden Ehegattin Anna Jung, geborenen Pirngruber, eheliche Tochter, geboren zu Linz 20. November 1784" (Willemer 1965, 770). Zwar dürfte zumindest der Name des Vaters nicht zutreffend sein, doch deutet vieles darauf hin, dass sie tatsächlich in oder um Linz, womöglich in Urfahr geboren wurde. Ihre Kindheit verbrachte sie im Osten Österreichs, wohl vor allem in Wien, wo sie schon früh auch auf der Bühne stand. Doch schon im Herbst 1798 verließ sie mit ihrer Mutter Elisabeth Jung (1761-1844) die Hauptstadt in Richtung Frankfurt, wo "Demoiselle Jung" bereits am 26. Dezember zum ersten Mal im Theater auftrat.
Dort ist bald der später vom Kaiser nobilitierte Johann Jakob Willemer (1760-1838), ein nicht nur äußerst erfolgreicher Bankier, sondern auch Liebhaber und Förderer des Theaters, auf die junge Schauspielerin aufmerksam geworden. Im Jahr 1800 wurde die nun 16-jährige Marianne von der nach Linz zurückkehrenden Mutter gegen eine Entschädigung von 2000 Gulden und eine jährliche Rente der Obhut des Bankiers überlassen, der das Mädchen nach knapp eineinhalb erfolgreichen Jahren vom Theater holte und als Pflegekind gemeinsam mit seinen Töchtern erziehen ließ. Aufgrund ihres aus gesellschaftlicher Sicht prekären Verhältnisses zu ihrem Ziehvater wurde sie hinter vorgehaltener Hand als Willemers "Maitresse" bezeichnet (Arnim/Brentano 1, 134-138), was sich rasch änderte, als sie der 24 Jahre ältere Mann am 27.9.1814 heiratete und damit ihre gesellschaftliche Stellung zurechtrückte.
Bereits 1814 hatte Goethe das Paar bei einem der seltenen Aufenthalte in seiner Vaterstadt besucht und großen Eindruck bei Marianne hinterlassen. Doch erst als er im folgenden Jahr wiederkehrte, entwickelte sich im Verlauf des Septembers zwischen den beiden ein sehr enges Verhältnis, das vielfach als Liebesbeziehung gedeutet wurde. Greifbarer Effekt der großen Sympathie sind in jedem Fall jene Gedichte, die in dieser Zeit in enger Auseinandersetzung, beinahe gemeinschaftlich geschaffen und später in das Buch Suleika des West-östlichen Divan aufgenommen wurden. Marianne war dabei mehr als nur Goethes Muse gewesen. Einige der berühmtesten der im Divan unter Goethes Namen erschienen Texte - darunter das Gedicht vom Ostwind ("Was bedeutet die Bewegung?") und jenes vom Westwind ("Ach! um deine feuchten Schwingen"), das mehrfach vertont wurde und damit auch wesentlich zum Erfolg des Divan beigetragen hat - stammten eigentlich von Marianne von Willemer. Doch trotz der öffentlichen Anerkennung ihrer dichterischen Leistung brüstete sich die Bankiersgattin nicht mit ihrer Autorschaft, so dass ihr Anteil erst nach Goethes und ihrem eigenen Tod bekannt wurde. Ob Muse, Geliebte oder Koautorin, die rätselhafte und schwer zu bestimmende Rolle, die sie bei der Entstehung des Divan spielte, hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, das postum entfachte rege Interesse an Willemer zu befeuern und lebendig zu halten.
Seit dem Jahr 2000 vergibt die Stadt Linz den Marianne.von.Willemer-Preis an Autorinnen mit biografischem oder literarischem Bezug zur Landeshauptstadt.
Daniel Ehrmann
von Arnim, Achim; Brentano, Clemens: Freundschaftsbriefe. Vollständig kritische Ed. 2 Bde. Hg. von Hartwig Schultz. Frankfurt/Main 1998. - Briefwechsel zwischen Goethe und Marianne von Willemer (Suleika). Hg. mit Lebensnachrichten und Erläuterungen von [Theodor] Creizenach. Stuttgart 1877. - [Grimm, Herman:] Goethe und Suleika. Zur Erinnerung an Marianne von Willemer. In: Preußische Jahrbücher 24 (1869), 2-21. - Leben und Rollenspiel. Marianne von Willemer, geb. Jung. 1784-1869. Ausstellungskatalog Freies Deutsches Hochstift / Frankfurter Goethe-Museum. Hg. von Christoph Perels. Frankfurt/Main 1984. - Martin, Dieter: Marianne von Willemers Suleika-Gedichte und ihre Vertonungen. In: Zeitschrift für deutschsprachige Kultur & Literaturen 19 (2010), 215-238. - Meyer-Kalkus, Reinhart: Leidenschaftliche Lieb oder Rollenspiel? Marianne von Willemer zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Johann Jakob von Willemer. In: Große Gefühle. Ein Kleidoskop. Hg. von Ottmar Ette und Gertrud Lehnert. Berlin 2007, 33-49. - Müller, Josef: Stammte Goethes Marianne aus Linz? Zu neuen Untersuchungen ihrer Herkunft. In: Vierteljahrsschrift des Adalbert-Stifter-Institutes 31 (1982), 73-76. - Neweklowsky, Max: Marianne Willemer und Linz, ihre Ahnentafel und die oberösterreichische Familie Pirngruber. In: Historisches Jahrbuch der Stadt Linz 1980, 57-79. - Reed, Terence J.: Was hat Marianne wirklich geschrieben? Skeptische Stimmen aus England. In: Liber Amicorum. Katharina Mommsen zum 85. Geburtstag. Hg. von Andreas und Paul Remmel. Bonn 2010, 465-481. - Reicherstorfer, Rudolf: Marianne von Willemer und Linz an der Donau. In: Der Heimatgau 3 (1941/42), 129-138. - Unseld, Siegfried: Goethe und der Ginkgo. Ein Baum und ein Gedicht. Frankfurt/Main, Leipzig 1998. - Wacha, Georg: Marianne van Gangelt, verehelichte Marianne Willemer. In: Historisches Jahrbuch der Stadt Linz 1980, 81-108. - von Willemer, Marianne und Johann Jakob: Briefwechsel mit Goethe. Dokumente, Lebens-Chronik, Erläuterungen. Hg. von Hans-J. Weitz. Frankfurt/Main 1965.