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Morbus Kitahara

Karl Blossfeldt: Eisenhutsproß; © Karl-Blossfeldt-Archiv von Ann und Jürgen Wilde

Roman von Christoph Ransmayr, erschienen 1995 im S. Fischer Verlag (Frankfurt/Main).

Ausgangspunkt des Roman-Geschehens ist der fiktive "Friede von Oranienburg", der nach einem verlorenen Krieg der Bevölkerung des zerstörten Dorfes Moor Sühneakte aufzwingt: Unter der Aufsicht des ehemaligen Lagerhäftlings Ambras arbeiten die Einheimischen in einem Steinbruch, Transparente und von den alliierten Siegermächten veranstaltete Gedenkfeiern sollen sie an ihre Mitschuld an den Gewalttaten des besiegten Regimes erinnern. Ambras wird von einer Schar wilder Hunde umgeben, denen er durch einen Gewaltakt seinen Willen aufgezwungen hat. Die zweite Hauptfigur des Romans ist Bering, der ehemalige Schmied des Dorfes, der zu Ambras' Leibwächter und Chauffeur aufsteigt. Er ist ein Kriegskind, das vom Trauma seiner Geburt mitten in einer Kriegsnacht ebenso wenig verlassen wird wie sein aus dem Krieg verstört heimgekehrter Vater von dessen Kriegserlebnissen. Zwischen Bering und Ambras steht Lily, ein geächtetes Täterkind, das von Brasilien träumt. "Zwei Tote lagen schwarz im Januar Brasiliens", lautet der vielzitierte erste Satz des Romans, dessen Auftakt gleich das Ende ankündigt. Auf einer Insel vor der Küste Brasiliens finden Ambras und Bering den Tod. Durch die Verflechtung von Täter- und Opferbiografien verweigert der Roman eine eindeutige Zuordnung der Rollen. Es geht Ransmayr vielmehr um die vor allem mentalen Deformationen als Folge unmenschlicher Lebensbedingungen.

Als Bezugsebene sind der Zweite Weltkrieg und die nationalsozialistischen Gräuel deutlich erkennbar, ohne dass allerdings das Geschehen in einen historischen Kontext rückübersetzbar wäre. Der Roman zitiert die Topografie des Salzkammergutes, die Kulisse sowohl für die touristische Vorkriegsidylle als auch für den Terror der Nazis. In Ebensee am Traunsee befand sich eines der Nebenlager des KZ Mauthausen; auf der Todesstiege in Mauthausen fanden viele Häftlinge, erschöpft von der Zwangsarbeit, den Tod. Lilys Fähigkeit, auf große Entfernungen zu töten, hat ein ungeheuerliches Dokument zur Grundlage, die rein technische, 'wertfreie' Beschreibung des Tötens durch ehemalige Scharfschützen des Zweiten Weltkriegs. Der brasilianische Stückgutfrachter "Monte Neblina", der die drei Hauptfiguren des Romans von Hamburg nach Brasilien bringt, hat sein Vorbild in der "MS Cap San Diego", heute ein Museumsschiff im Hamburger Hafen, das in den 1960er Jahren Schrott nach Brasilien und Bananen zurück nach Europa transportierte. Die genauen Recherchen des Autors dienen nicht der Absicherung der Erzählung vor der Wirklichkeit, sie schaffen vielmehr erst den Imaginationsraum für die "Erfindung der Welt". Hinzu kommen zahlreiche literarische Referenzen: Dem vom Krieg gezeichneten Dorf Moor am Rande eines Gebirgsmassivs steht Brasilien gegenüber, Stefan Zweigs "Land der Zukunft", in dem sich der vor den Nazis geflohene Schriftsteller 1942 das Leben nahm. In der Figur Ambras sind außerdem Motive aus Hermann Melvilles Erzählung Charles's Isle and the Dog-King verarbeitet, ein weiterer Bezugspunkt ist die Beschreibung der Folter in Jean Amérys autobiografischem Buch Jenseits von Schuld und Sühne (1966).

In einer Art "Hyperrealismus" (Ransmayr) kommt es zu einer Überblendung verschiedener historischer und prähistorischer Zeiten und Räume, ein Effekt dieses Verfahrens sind zahlreiche Anachronismen: Der Roman spielt in einem bis in die späten 1960er Jahre andauernden Nachkrieg. Schlagzeilen zum Atombombenabwurf über Hiroshima sind zum Teil wörtlich in den Text einmontiert. Die Gebirgskämpfe an der Isonzofront während des Ersten Weltkriegs, die nationalsozialistischen Lager, die vom Zivilisationsschrott überformten Dritten und Vierten Welten, versinnbildlicht in einem "Krähe" genannten Fantasiegefährt, das Bering aus den Versatzstücken amerikanischer Straßenkreuzer zusammenbaut, sowie die longue durée prähistorischer Versteinerungen - zusammen genommen gerinnen sie zu Erinnerungsbildern an eine zugleich nahe und ferne Unzeit.

"Morbus Kitahara" bezeichnet eine Krankheit, bei der es zu einer Verengung des Sehfeldes kommt, von der auch der Autor selbst betroffen war; gewidmet ist das Buch Ransmayrs Vater und dem aus Wien stammenden Emigranten Fred Rotblatt, der gerade noch mit einem Kindertransport nach England entkommen konnte. In keinem anderen Roman Christoph Ransmayrs sind die autobiografischen Bezüge so eng mit der Gewaltgeschichte des 20. Jh. verbunden.

Bernhard Fetz

 

Morbus Kitahara. Roman. Frankfurt/Main 1995.

Cieslak, Renata: Mythos und Geschichte im Romanwerk Christoph Ransmayrs. Frankfurt/Main 2007. - Greiner, Ulrich: Eisen, Stein und Marmor. In: Die Zeit, 13.10.1995. - Honold, Alexander: Die steinerne Schuld. Gebirge und Geschichte in Christoph Ransmayrs Morbus Kitahara. In: Sinn und Form 51 (1999), H. 2, 252-267. - Neumann, Thomas: Mythenspur des Nationalsozialismus. Der Morgenthauplan und die deutsche Literaturkritik. In: Uwe Wittstock (Hg.): Die Erfindung der Welt. Zum Werk von Christoph Ransmayr. Frankfurt/Main 1997, 188-193. - Niekerk, Carl: Vom Kreislauf der Geschichte. Moderne - Postmoderne - Prämoderne: Ransmayrs Morbus Kitahara. In: Uwe Wittstock (Hg.): Die Erfindung der Welt, a. a. O., 158-180. - Schmidt, Thomas E.: Dunkelgrüner Granit, brüchig, beinahe schon zu Schotter zerbröselt. In: Frankfurter Rundschau, 11.10.1995. - Seibt, Gustav: Der Hundekönig. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.9.1995. - Wagner, Karl: Der Hundekönig. Zu einer Figur bei Christoph Ransmayr. In: Manfred Mittermayer und Renate Langer (Hg.): Porträt Christoph Ransmayr (= Die Rampe 2009, H. 3), 95-100. - Winter, Michael: Die Welt auf dem Abstellgleis. In: Süddeutsche Zeitung, 11.10.1995.