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Nachschrift

Cover der Erstausgabe des ersten Bandes 1986

Literarisches (und fotografisches) Hauptwerk von Heimrad Bäcker, erschienen in zwei Teilen 1986 in der edition neue texte (Linz, Wien) bzw. 1997 im Droschl Verlag (Graz).

Dem umfangreichen Werkkomplex, niedergelegt in nachschrift (1986) und nachschrift 2 (1997), werden oft Einzelpublikationen wie SEESTÜCK (1985), EPITAPH (1988) und das Hörstück Gehen wir wirklich in den Tod? (1995) sowie auch das fotografische Werk Heimrad Bäckers zugerechnet - gezeigt wurde das Gesamtwerk des Autors in dieser von ihm intendierten, spartenübergreifenden Form in einer großen Einzelausstellung, die im Jahr 2002 in der Oberösterreichischen Landesgalerie in Linz stattgefunden hat. Eine dramatisierte Fassung von nachschrift kam im Jahr 1993 im Berliner Hebbel-Theater zur Uraufführung und wurde anschließend an mehreren deutschen Theatern gezeigt. Eine türkische Übersetzung von nachschrift erschien 2003, eine amerikanische ist in Arbeit.

Mit Mitteln der konkreten Poesie entsteht in der nachschrift eine spezifische Art dokumentarischer Dichtung, hierfür ist u. a. ein biografischer Ansatzpunkt ausschlaggebend: Nach Ende des Zweiten Weltkrieges hat Bäcker das Konzentrationslager Mauthausen als einen Ort lebenslangen Nachfragens entdeckt. In Texten, Fotografien und teilweise auch Sammlungen realer Objekte war er bestrebt, in den übriggebliebenen Resten die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten festzuhalten.
Das im engeren Sinn literarische Verfahren der nachschrift fügt sich jenem Prozess ein: Übriggebliebene Dokumente des Nationalsozialismus werden mit formalen Verfahren, die an die Methoden der konkreten Poesie (Reihung, Permutation, Elision u. a.) erinnern, bearbeitet und auf diese Weise 'sprechend' gemacht. Nicht nur die Dokumente der Täter, sondern auch die Dokumente der Opfer fügt Bäcker solcherart in seine nachschrift ein. Dieses Zusammentreffen der bürokratisch entmenschlichten und der menschlichen, aber nur mehr bürokratisch vermittelten Stimmen verleiht den Texten eine immense innere Spannung. Ein fiktionales Ich hingegen schließt Bäcker aus seiner Literatur in programmatischer Weise aus. Vermittels dessen, was in den Dokumenten von ihnen geblieben ist, treffen hier die Individuen der einen und der anderen Seite in direkter Weise aufeinander. Ganz im Sinne des italienischen Philosophen Giorgio Agamben, der seine gegenwärtig vieldiskutierte Theorie des aktiven Restes - viel später - in dem Buch Was von Auschwitz bleibt (dt. 2003) niedergelegt hat, setzt Bäcker mit seinen literarischen Verfahren an den hochaktiven Resten des Holocaust an. Die nachschrift vermeidet konventionelle und repräsentative Erinnerungsgesten, die anderswo oft genug zu einem puren Ritual erstarren, und etabliert in sich einen Raum, in dem sich etwas von dem findet, was am Holocaust bis heute nur sehr schwer zu begreifen ist, dass es nämlich auf der einen wie auf der anderen Seite Individuen waren, die als Täter und Opfer zusammenspielten.

Angesichts der Reduziertheit von Bäckers Methode fällt, wenn man den Werkkomplex als Ganzes überblickt, die Heterogenität der nachschrift-Texte auf. In den formalen Arrangements wird etwas von der fortschreitenden Ausbreitung der Maßnahmen, der steigenden Zahl der Opfer, der sprachlichen Gleichmacherei, dem Kauderwelsch der Bürokratie, der Totalität des Systems und der Masse der Toten sichtbar. Letzteres macht Bäcker insbesondere durch Verfahren der Reihung und durch die Setzung von Zahlenkolonnen deutlich. Manche Texte der nachschrift markieren etwas von dem, was die Geschichtswissenschaft ansonsten oft lange zu ergründen sucht, nämlich die Beiläufigkeit epochaler Umbrüche. Dies ist beispielsweise in jenem Textstück der Fall, in dem es um die berüchtigte Wannseekonferenz geht und in dem neben dem ungeheuren Wort von der "endlösung" gleich auch von dem "anschließenden frühstück" (25) der Teilnehmenden die Rede ist.

Am eindringlichsten ist die nachschrift sicher dort, wo die Opfer sprechen. Bei Bäcker tun sie es aus einer unmöglichen Position, nämlich so, als wären sie im Sprechen schon tot:

"meine leiche befindet sich diesseits der schule beim straßenwärterhaus, wo albegno ist, diesseits der brücke, ihr könnt sofort mich holen kommen" (114).

Klaus Kastberger

 

SEESTÜCK. Linz 1985. - nachschrift. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Friedrich Achleitner. Linz, Wien 1986 (2. korr. Auflage: Graz 1993). - EPITAPH. Linz 1989 (2. erw. Ausgabe: Linz 1990). - Gehen wir wirklich in den Tod. Graz, Wien 1995. - nachschrift 2. Hg. von Friedrich Achleitner. Graz 1997. - tutanak (= nachschrift. Übers. ins Türkische von Erhan Altan-Selda Saka). Istanbul 2003.

Bäcker, Heimrad: dokumentarische dichtung. In: protokolle 2 (1992), 43-45. - Cohen, Robert: Zu Heimrad Bäckers nachschrift. In: Peter Weiss Jahrbuch, 8 (1999), 141-153. - Eder, Thomas; Kastberger, Klaus (Hg.): Heimrad Bäcker. Linz 2001 (Die Rampe. Portrait). - Eder, Thomas, Hochleitner, Martin (Hg.): Heimrad Bäcker. Graz 2002 (Ausstellungskatalog Landesgalerie am Österreichischen Landesmuseum). - Nieraad, Jürgen: Shoah-Literatur: Weder Fiktion noch Dokument - Alexander Kluges Liebesversuch und Heimrad Bäckers nachschrift. In: Stephan Brasse (Hg.): In der Sprache der Täter. Opladen 1998, 137-148. - Zeyringer, Klaus: Zusammenfall von Dokument und Entsetzen: Heimrad Bäckers nachschrift - ein Hauptwerk der "Konkreten Poesie". In: Ders.: Österreichische Literatur 1945-1998. Innsbruck 1999, 207-212.