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neue texte; edition neue texte

Cover des ersten Hefts, November 1968. © Literaturarchiv der ÖNB, Wien

Die von Heimrad Bäcker begründete Zeitschrift neue texte und der Verlag edition neue texte zählen zu den wichtigsten Medien der konkreten und visuellen Poesie in Österreich.

Sowohl die 1968 gegründete Zeitschrift als auch der 1975 entstandene Verlag präsentieren einen Großteil der heute relevanten Vertreter der konkreten Poesie - zum Teil in Erstveröffentlichung. Ernst Jandl (1925-2000) spricht vom "führenden konkreten Periodikum", von "österreichischen Beiträgen zu einer modernen Weltdichtung". Daneben finden sich auch international bedeutsame visuelle Arbeiten und Lautpoesie veröffentlicht, die deren Unabhängigkeit von nationalen Sprachgrenzen zeigen.
Heimrad Bäcker gehört als Verleger und Autor zu den herausragenden Erscheinungen der österreichischen Literatur nach 1945. In einer Zeit, da sich konkrete Poesie durch Anthologien (z. B. Williams 1967; Solt 1970; Gomringer 1972) und retrospektive Selbstbestimmungen zu historisieren beginnt, entsteht seine Zeitschrift neue texte und bleibt bis zum Ende ihres Bestehens (1992) eines der bedeutendsten Foren der sogenannten konkreten Poesie, die sich selbst neu zu definieren versucht. Der Kritik von außen, etwa dem Vorwurf ihrer "Sterilität" (Friedrich 1966, Vorwort), korrespondiert zu Beginn der 1970er Jahre eine zunehmende Unbestimmtheit des Begriffs "konkret" bei ihren eigenen Vertretern. Dem darauf folgenden Umbruch von konkreter zu visueller und konzeptioneller Poesie bieten die neuen texte ein Publikationsorgan, das neben international arrivierten auch jüngere und (damals) noch unbekannte Autoren und Autorinnen präsentiert und so die lebendige Auseinandersetzung zwischen dogmatischen, am Begriff des konkreten Texts orientierten Arbeiten und neuen, experimentellen Formen auch in der medial-formalen Darstellungsweise (Kombination von Bild-, Foto-, Textarbeiten, experimentelles Hörspiel, Dokumentation von Performances und Aktionen etc.) zeigt.

Das Cover der ersten Ausgabe (November 1968) trägt einen Ausschnitt aus dem Hörspiel ASCHENBAHN von Friederike Mayröcker (geb. 1924), in dem sie Elemente einer Rede im Originalton mit phonetisch-akustisch motivierten Redepassagen zu einem faktizitären Plot eines Grubenunglücks komponiert. Im Heft selbst üben sich gemeinsam mit Heimrad Bäcker jüngere Autoren in das Schreiben Eugen Gomringers (geb. 1925) ein, dessen Konstellation das stundenbuch. NACHWORT abgedruckt ist. Daneben wird ein Brief des britischen Lautpoeten Bob Cobbing (1920-2002) zitiert und eine von Bäcker zusammengestellte,  kommentierte Bibliografie veröffentlicht, die programmatisch für die inhaltliche Ausrichtung der neuen texte ist. Außerdem enthält die erste Nummer Bäckers Rezension duddn und blosn zur Poetik der Wiener Gruppe, die auf deren "kräftige literarische Produktion in diesem Jahrzehnt" verweist.
Die zweite Nummer der Zeitschrift präsentiert das für die spätere Produktion der nachkonkreten Dichtung signifikante visuelle Moment durch Arbeiten von Ian Hamilton Finlay (1925-2006), John Furnival, Bob Cobbing, Hansjörg Mayer (geb. 1943) u. a. Dabei wird die typographische, zweidimensionale Visualität um die Dimension der Fotomontage (Mayer) bzw. der Beschriftung eines skulpturalen Objekts (Finlay) erweitert. Mit Raoul Hausmann (1886-1971) wird darüber hinaus ein bis dato in Österreich wenig bekannter bzw. nach 1945 vergessener Vertreter der historischen Avantgarde des frühen 20. Jh. vorgestellt. Seine Arbeiten werden in den neuen texten kontinuierlich veröffentlicht.

Der Internationalität und Unabhängigkeit von Nationalsprachen, wie sie gelegentlich als konstitutives Merkmal der konkreten Poesie formuliert wird, begegnet Bäckers Zeitschrift mit der Präsentation von Arbeiten tschechischer (u. a. Jirí Valoch, Bohumila Grögerová, Josef Hirsal, Heft 4), britischer (Heft 2, s. o.), oder französischer Dichter (u. a. Pierre Garnier, Jean-Marie Le Sidaner, Heft 5/6). Ernst Jandls in Heft 2 (Mai 1969) veröffentlichter Aufsatz Konkrete Poesie in Großbritannien ist mehr als die Beschreibung einer nationalen Spielart der konkreten Dichtung. Mit interpretatorischer Schärfe markiert er an den Arbeiten einzelner britischer Autoren die allgemeine Charakteristik und Poetik einer Dichtung des "erweiterten Konkretismus".
Insgesamt ist es das Nebeneinander und Ineinandergreifen von Primärtexten und theoretischen Analysen (vgl. dazu auch Schmidt 1973), das die neuen texte bestimmt und etwa von der theorieferneren Literaturzeitschrift manuskripte unterscheidet. Heft 12 wendet sich mit Gedichten von Reinhard Priessnitz (1945-1985) und Prosa von Anselm Glück wieder mehr dem (schrift-)sprachlichen Text zu, auch wenn diese Arbeiten umgekehrt die Reflexion und formale Kritik der verbalen Aussagemöglichkeiten betonen. Über die Jahre hinweg bleibt aber für die neuen texte der Zusammenhang von Bild und Text bzw. von Begriff/Vorstellung und Laut/Schrift bedeutsam und steht im Zentrum der poetischen Praxis und Auseinandersetzung (so etwa in den Arbeiten von Jochen Gerz im Heft 12, 1974). Diese beiden Hauptstränge (auch gegenwärtiger) konkreter Dichtung - vereinfacht gesagt, das "Experiment mit der Tradition" (Renate Kühn) als Frage nach dem "Verstehen von Verstehen"(Oswald Wiener) und die experimentelle Innovation durch visuelle Poesie - prägen die weiteren Ausgaben ebenso wie die edition neue texte.

1976 erscheint mit dem Buch COMIC von Gerhard Rühm (geb. 1930) der erste Band des Buchverlags, der zahlreichen Texten der avancierten Literatur ab den 1970er Jahren die Möglichkeit zur Veröffentlichung bietet und damit wegweisend wird. Heimrad Bäcker fungiert als Herausgeber der edition neue texte, die Auswahl trifft in den Anfangsjahren ein Lektorat, bestehend aus  Friedrich AchleitnerElfriede Czurda, Gerhard Rühm und Reinhard Priessnitz. Zu den wichtigsten Autoren zählen neben Priessnitz selbst (zu Lebzeiten erscheinen vierundvierzig gedichte, 1978; alle anderen Texte posthum) Franz Josef Czernin (geb. 1952), Valie Export (geb. 1940; KÖRPERSPLITTER, 1980), Bodo Hell (geb. 1943; stadtschrift, 1983), Fritz Lichtenauer (geb. 1946; text & linie, 1978), Christian Steinbacher (ana 365 gramm, 1991) oder Friedl Kubelka-Bondy (geb. 1946; Drei Jahresporträts, 1984). In den meisten dieser Arbeiten wird das Verhältnis von Bild und Text bzw. die Auseinandersetzung mit sinnlich-visueller Wahrnehmung und inhaltlichem Verstehen ausgelotet. Parallel erscheinen in den neuen texten zu dieser Zeit neben materialreichen und durch akzentuierte Auswahl gekennzeichneten Sonderheften (1974 zu Friedrich Achleitner, 1975 zu Heinz Gappmayr [1925-2010], 1976 zu Ernst Jandl, 1978 zu Friederike Mayröcker, 1982 zu Franz Mon [geb. 1926], 1983 zu Helmut Heißenbüttel [1921-1996]) eine Reihe jüngerer Autoren und Autorinnen, die an der Grenze von Bild und Text arbeiten.

Die letzte Nummer der neuen texte erscheint 1991 (Heft 45, files & windows). Durch die Übernahme des Verlags edition neue texte durch den Grazer Droschl Verlag 1992 wird die Zeitschrift eingestellt, die erfolgreiche Editionsreihe wird bis 2005 fortgesetzt. Mit nachschrift 2 etwa schließt Heimrad Bäcker 1997 sein umfassendes Projekt nachschrift ab, das aus mehreren Teilen besteht. In ihm entwickelt er die Möglichkeiten einer dokumentarischen Literatur (über die NS-Zeit) mit Mitteln der konkreten Poesie. In seiner Auswahl aus den Aufschreibesystemen der Täter wie der Opfer, der Kläger wie der Angeklagten des Holocaust, legt der "Spracharchäologe" (Ferdinand Schmatz) die in Sprachverwendung und -struktur angelegten Keimzellen des Grausamen frei.

Thomas Eder

 

Bäcker, Heimrad: SEESTÜCK. Linz 1985. - ders.: nachschrift. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Friedrich Achleitner. Linz, Wien 1986 (2. korr. Aufl.: Graz 1993). - ders.: EPITAPH. Linz 1989 (2. erw. Ausg.: Linz 1990). - ders.: nachschrift 2. Hg. von Friedrich Achleitner. Graz 1997. - Czernin, Franz Josef: Die Kunst des Sonetts. Linz 1985. - ders.: Gedichte. Graz, Wien 1992. - Czurda, Elfriede: Voik. Graz, Wien 1993. - dies.: Un-Glüx-Reflexe. Graz, Wien 1995. - Export, Valie: KÖRPERSPLITTER. Linz 1980. - Friedrich, Hugo: Die Struktur der modernen Lyrik. Reinbek bei Hamburg 1966 [1956]. - Gomringer, Eugen: konkrete poesie. deutschsprachige autoren. Stuttgart 1972. - Hell, Bodo: stadtschrift. Linz 1983. - Kubelka-Bondy, Friedl: Drei Jahresporträts. Linz 1984. - Lichtenauer, Fritz: text & linie. Linz 1978. - Priessnitz, Reinhard: vierundvierzig gedichte. Hg. von Heimrad Bäcker. Linz, Wien 1978. - ders.: Werkausgabe. Hg. von Ferdinand Schmatz. Linz, Wien (Graz, Wien) 1986ff. - Rühm, Gerhard: COMIC. Linz 1976. - Schmatz, Ferdinand: Speise. Graz, Wien 1992. - Schmidt, S. J.: von der konkreten zur konzeptionellen dichtung. In: neue texte 10 (1973). - Solt, Mary Ellen: Concrete poetry: a world view. Bloomington, London 1970. - Williams, Emmett: An Anthology of Concrete Poetry. New York u. a. 1967. - Zauner, Hansjörg: Laermleinen vor Huefte gekehlt. Graz 1994. - ders.: die ofensau muß raus. Graz, Wien 2005.

Stand: 6.9.2011