Der kurze Dreiakter steht am Anfang einer Vielzahl jener seit Beginn der 1970er-Jahre entstandenen Volksstücke, mit denen sich der 1946 in München geborene und damals als énfant terrible der deutschsprachigen Theaterlandschaft geltende Autor, Regisseur und Schauspieler Franz Xaver Kroetz, der 1972 der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) beigetreten war und für sie kandidierte, einen Namen gemacht hat.
Inhalt, Aufbau und sprachlicher Stil des Zwei-Personen-Stücks lassen unübersehbar Anklänge an Ödön von Horváth oder Marieluise Fleißer erkennen: Als Anni von Heinz ein Kind erwartet, wird die Ehe des jungen Paares auf die Probe gestellt. Heinz, von Beruf Kraftfahrer, hat einerseits Angst, in seiner gesellschaftlichen Rolle zu versagen, andererseits erwartet er sich ein besseres Leben jenseits der Zwänge von Arbeit, Familie und gelegentlichen Kegelabenden. Ihm ist manchmal "als wär das grad ned ich, als wär das igendeiner, der keine Bedeutung hat. Ich." (26) Er träumt vom sozialen Aufstieg - äußere Symbole wie Auto, Fernseher oder Wohnungseinrichtung sind der Indikator für den gesellschaftlichen Status. Bereits die erste Szene lässt das Paar die Werbebroschüre für einen Swimmingpool studieren, obwohl es in einer Zweizimmerwohnung lebt. "Man muß an das Lebn glaubn" (30), versucht die als Verkäuferin tätige Anni ihren an sich und der Welt zweifelnden Mann aufzumuntern. Sie plädiert für das Kind, während Heinz auf eine Abtreibung drängt. Schließlich soll eine haushalterische "Bilanz" einen ‚gerechten‘ "Urteilsspruch über das Kind" (32) fällen und zeigt, wie sehr die Familienplanung dem ökonomischen Sachzwang unterworfen ist.
Kroetz' Stücke kommen in ihrer beklemmenden Realität, mit ihrer ungekünstelten, direkten und aus dem Alltag stammenden "Sprache der Sprachlosen" (Karasek 1985 [1971]), in der - ähnlich wie bei Horváth - die Pausen, das Unausgesprochene, ebenso wichtig wie der Text sind, nicht nur den damaligen Lebensbedingungen des Arbeitermilieus, sondern auch den gesellschaftspolitischen Debatten nahe. Anfang der 1970er-Jahre erreichte in Deutschland die öffentliche Diskussion um den Paragraphen 218, der die Abtreibung gesetzlich verbietet, ihren Höhepunkt. Sie bildet den Hintergrund des Stücks wie auch seines Titels. Anni liest eine Zeitungsmeldung, derzufolge in "der Nähe von Linz, Oberösterreich", ein junger Mann seine Ehefrau erschlagen hatte, "weil sie schwanger war und einer Abtreibung nicht zustimmte" (41). Kroetz lässt am Schluss seines Dreiakters einen glücklicheren Ausgang erkennen. Heinz erkennt eine Parallele mit der eigenen Situation, doch Anni kontert: "Schmarrn, du bist doch kein Mörder" (42), worauf er ihr zustimmt. Freilich könnte das Stück "ebenso gut ‚Westerwald‘ heißen oder ‚Eifel‘ oder ‚Hunsrück‘ oder ‚Bayerischer Wald‘", zeigt es doch ein Leben, "wo die Provinz in erster Linie Provinz ist, wo die Lebensbedingungen bescheiden sind und die Fantasie beflügeln" (Heidermann 2014, 98).
Die Uraufführung erfolgte 1972 an den Städtischen Bühnen Heidelberg mit Maria Pichler und Sascha Scholl (Regie: Dieter Braun), 1973 wurde Oberösterreich von Ulrich Heising als Radio-Hörspiel bearbeitet (mit Ruth Drexel und Walter Schmidinger) und 1988 für das ZDF inszeniert; auch in der DDR erlebte dieses so wie andere Stücke von Kroetz eine breitere Rezeption.
Bernhard Judex
Oberösterreich. In: Franz Xaver Kroetz: Oberösterreich; Dolomitenstadt Lienz; Maria Magdalena; Münchner Kindl. Frankfurt/Main 1974, 7-42 [Referenzausgabe].
Carl, Rolf-Peter: Franz-Xaver Kroetz. München 1978. - Heidermann, Werner: "Ich möchert schon einmal nach Wien" - Mief und Muff in Franz Xaver Kroetz' Oberösterreich (1972) und der brasilianischen Übersetzung von 1979. In: Cadernos de Tradução 2014 (Juli/Dez.), No. 2, especial (Depois de Babel), 95-110. - Hein, Jürgen: Franz Xaver Kroetz: Oberösterreich, Mensch Meier. Frankfurt/Main 1986. - Karasek, Hellmuth: Die Sprache der Sprachlosen. Über das Volksstück, insbesondere die Stücke von Kroetz. In: Otto Riewoldt (Hg.): Franz Xaver Kroetz. Materialien. Frankfurt/Main 1985 [1971], 76-82. - Reinhold, Ursula: Franz Xaver Kroetz - Dramenaufbau und Wirkungsabsicht. In: Otto Riewoldt (Hg.): Franz Xaver Kroetz. Materialien. Frankfurt/Main 1985 [1971], 229-251. - Stillmark, Alexander: Oberösterreich am Deutschen Theater Berlin / DDR. In: Otto Riewoldt (Hg.): Franz Xaver Kroetz. Materialien. Frankfurt/Main 1985 [1971], 213-219. - Töteberg, Michael: Ein konservativer Autor. Familie, Kind, Technikfeindlichkeit, Heimat: traditionsgebundene Werte in den Dramen des Franz Xaver Kroetz. In: Otto Riewoldt (Hg.): Franz Xaver Kroetz. Materialien. Frankfurt/Main 1985 [1971], 284-296.