"Einen Aufsatz über die Donau zu schreiben / von dem was ein Fluß ist zu schreiben [...]". - Das Projekt, das Franz Tumler sich in diesem Buch vornimmt, wirkt im ersten Moment nicht gerade anspruchsvoll; aber der "Aufsatz" weist Strophen auf und Verse, sprengt also die konventionellen Grenzen zwischen Prosa und Lyrik. Er lenkt durch Enjambements den Blick vom einen zum andern und zugleich wieder zurück und setzt schließlich ein ambitioniertes Vorhaben um: "keine Geschichte zu machen / sondern Sätze". Jean Améry hat diese Sätze ganz besonders geschätzt. Sie gehen, so hält er fest, "jeden an, der die silbergrauen Auen kennt, die Wirtshäuser, die Holzlagerplätze". Tumlers Sätze hätten nicht zuletzt auch die Zeiten in Erinnerung gerufen, in denen "das Land Österreich sich duckte, ein Waschweib mit so viel schmutziger Wäsche im Korb und so zerfurchtem Altweibergesicht."
Eine Vorstufe des Projekts vermittelt noch Bausteine einer Geschichte: "Die Donau kommt bei Passau ins Land, und gewinnt sogleich ihre Größe. Mit fahlem Lehm gemischt, strömt sie dahin und wie ein atmendes Wesen zieht sie in stetem Wirbel die Landschaft an sich. Auf das Waldtal, in dem sie rauh und rauschend den Lauf hat, folgt die Ebene, die sie still und träg mit vielen Armen durchdringt. Dann verschließt sie sich wieder zu einer starken Ader im Tal und wird wieder geöffnet. Da liegt Linz [...]." In der Druckfassung des Prosa-Gedichts - als solches bezeichnete es als Erster Hans Dieter Zimmermann - werden die Sätze kürzer oder aber ganz auseinandergerissen, es werden Erinnerungen eingeflochten und Bruchstücke aus Erzählungen, es wird angesprochen, was die Menschen an der Donau "berührt": "1917 der betrunkene Mann / der sich das Leben nehmen wollte wegen der Zeit / ohne Hoffnung", "der Krieg", "vielleicht das Hochwasser 1920" Es sind Erinnerungen an die Kindheit des Ich-Erzählers, an die Spiele, Verbote und Ängste, an die Erzählungen der Vorfahren, an die Gasthöfe und die Lagerhäuser am Ufer des Flusses, an die Schiffe - Beschreibungen und Erinnerungen, die übereinander stürzen wie die Wellen der Donau, vermischen sich in diesen Aufzeichnungen und Aufzählungen mit poetologischen Notaten und mit historischen Andeutungen; auf Kommentare wird verzichtet. Alle eindeutigen Festlegungen werden aufgehoben in rätselhaften Wendungen und Windungen, wie sie der Blick auf den Strom dem Betrachter suggeriert: "dieselbe Bewegung / Verzweigung Umarmung".
Johann Holzner
Sätze von der Donau. Zürich 1965. - Sätze von der Donau. München 1972. - Sätze von der Donau. München 1988. - Franz Tumler liest aus "Sätze von der Donau". Mp3-Audiodatei: Mediathek, Österreichische Gesellschaft für Literatur, Veranstaltungsprogramm 1972.
Améry, Jean: Verzweigungen. Randnotiz zu "Sätze von der Donau". In: Welche Sprache ich lernte. Texte von und über Franz Tumler. Hg. von Hans Dieter Zimmermann. München, Zürich 1986, 153-155. - Franz Tumler. Beobachter - Parteigänger - Erzähler. Hg. von Johann Holzner und Barbara Hoiß. Innsbruck, Wien, Bozen 2010. - Hoiß, Barbara: Ich erfinde mir noch einmal die Welt. Versuch über Moderne, Heimat und Sprache bei Franz Tumler. Univ. Diss. Innsbruck 2006. - Zimmermann, Hans Dieter: Der Strom der Erinnerung. Zu Franz Tumlers "Sätze von der Donau". In: Franz Tumler. Beiträge zum 75. Geburtstag. Hg. vom Bundesländerhaus Tirol. Wien 1987, 39-46.