Kappachers Roman handelt von zwei historisch belegten Ereignissen: zum einen vom tödlichen Unfall des deutschen Rennfahrers Bernd Rosemeyer am 28. Januar 1938 beim Versuch, einen neuen Geschwindigkeits-Weltrekord aufzustellen; zum anderen von zwei durch Sabotage ausgelösten Explosionen im oberösterreichischen Ort Redl-Zipf, die im Februar und August 1944 die Entwicklung der V2-Rakete unterbrachen und zum Tod einer beträchtlichen Zahl von Menschen führten. Berichtet wird aus der Erinnerung des einstigen Rennwagenkonstrukteurs Paul Windisch, der wiederum von dem jungen Motorsport-Journalisten Andreas Mautner befragt wird. Strukturell besteht das Buch aus zwei kürzeren Kapiteln zu Beginn und am Ende (datiert mit 9. und 16. Juni), die drei weitere, längere Kapitel umrahmen (vom 31. Mai sowie vom 1. und 2. Juni; Anspielungen auf das Reaktorunglück von Tschernobyl legen das Jahr 1986 nahe).
Mautner plant zunächst ein Buch über die "Silberpfeile", die legendären Rennwagen der deutschen Auto-Union und von Mercedes-Benz, deren Wettfahrten in den 1930er-Jahren die europäischen Motorsportfans in Begeisterung versetzten. Den Ausgangspunkt für sein Vorhaben bildet der Besuch eines Museums in Mantua, das dem aus dieser Stadt stammenden Autorennfahrer Tazio Nuvolari gewidmet ist. Dort ist eine Schwarz-Weiß-Fotografie von vier Rennwagen aus dem Jahr 1937 zu sehen, die neben deren damals berühmten Fahrern u. a. auch Hitler im Gespräch mit einem weiteren Mann zeigt.
Bei ihm handelt es sich um den inzwischen 85-jährigen Windisch, den Mautner in einem Altersheim in Oberndorf bei Salzburg, aber auch in seinem Haus in Eggelsberg interviewt. Windisch erzählt, wie er 1933 als Konstrukteur in die von Ferdinand Porsche geleitete Rennabteilung der Auto-Union in Zwickau eintritt und am Bau des Hochgeschwindigkeits-Wagens mitwirkt, mit dem Bernd Rosemeyer zuletzt, von einer Windbö erfasst, mit über 430 Stundenkilometern ums Leben kommt. Doch bald stellt sich heraus, dass der einstige Ingenieur auch von ganz anderen Erinnerungen verfolgt wird. Als ab 1943 im geheimen Werk "Schlier" in den früheren Brauerei-Stollen von Redl-Zipf unter dem mörderischen Einsatz zahlreicher Häftlinge aus dem Konzentrationslager Mauthausen Testversuche für Hitlers sogenannte "Wunderwaffe" durchgeführt werden, ist Windisch wieder mit dabei. Bei der ersten Explosion in "Schlier" verliert er einen Arm und entgeht dadurch dem zweiten, noch katastrophaleren Unglück.
Kappachers Roman macht die politische Funktion des Motorsports im nationalsozialistischen System deutlich; Hitler habe "damals die Wichtigkeit von Automobilrennen, mehr noch, der Motorisierung des Volkes früher als andere Politiker begriffen" (19), meint Windisch. Seine Erinnerungen enthalten auch Passagen über die Frage von Kollaboration und Schuld angesichts des verbrecherischen Kontexts seines beruflichen Engagements. "Für uns Ingenieure waren die Voraussetzungen in jenen Jahren optimal", gibt er an, "wir hatten ein freies Feld für Forschung und Entwicklung vor uns, wir konnten etwas schaffen und Erfolge feiern." Immerhin betont er, "nicht zu denen gehört" zu haben, "die nach dem Krieg so getan haben, als seien sie immer gegen die Nazis gewesen." (186)
Silberpfeile wurde rasch als einer der bedeutendsten Texte des Büchnerpreisträgers eingeschätzt. "In seiner hohen Kunst des Understatements bringt es Kappacher zuwege, den Zusammenhang zwischen Rennsport und autoritärer Gesellschaft, von Maschinenkult und faschistischer Ideologie sichtbar zu machen, ohne die Leidenschaft seiner Protagonisten zu denunzieren." (Gauß 2000) Und Peter Handke meint in seiner Rede zur Verleihung des Hermann-Lenz-Preises an den Autor, "solch eine Geschichte hat Österreich nötig, und so eine Geschichte wie Walter Kappacher sie von den Zwangsarbeitern im Untergrund auf dem heutigen idyllischen Biergelände erzählt, die muß gelesen werden, heute und morgen". Für ihn ist der Roman eine "Expedition des Schreibens, wie man sie sich abenteuerlicher nicht wünschen kann. Und sie ist dabei so unauffällig erzählt, wie eigentlich nur Robert Walser das gekonnt hat" (Handke 2004, 20).
Manfred Mittermayer
Walter Kappacher: Silberpfeile. Roman. München 2009 [Referenzausgabe] (zuerst: Wien 2000).
Cerha, Michael: Die Vehikel des Faschismus. In: Der Standard, 21.10.2000. - Gauß, Karl-Markus: Dröhnende Stille. Walter Kappachers meisterlicher Roman Silberpfeile. In: Neue Zürcher Zeitung, 23.12.2000. - Handke, Peter: Prosa als Hintergrund (aus)leuchten. Rede zur Verleihung des Hermann-Lenz-Preises an Walter Kappacher, 12.6.2004. In: manuskripte 2004, H 165, 29-32. - Hinterholzer, Astrid: Technikfaszination und -skepsis im Werk Walter Kappachers. Dipl.-Arb. Univ. Salzburg 2002. - Judex, Bernhard: Sind Ingenieure Helden? Zu Walter Kappachers Roman Silberpfeile. In: Manfred Mittermayer, Ulrike Tanzer (Hg.): Walter Kappacher. Person und Werk. Salzburg, Wien 2013, 95-105. - Karny, Thomas: Hitlers Boliden. In: Salzburger Nachrichten, 24.2.2001. - Müller, Lothar: Der da vorne ist Hitler, nicht wahr? In: Süddeutsche Zeitung, 5.10.2009. - Mürzl, Heimo: In bedächtigem Tempo. In: Wiener Zeitung, 2.3.2001.- Nüchtern, Klaus: Des Igels längster Stachel. In: Falter, 20.10.2000. - Renoldner, Klemens: Der Rennfahrer im Werk Schlier. In: Literatur und Kritik 2000, H. 349/350, 97-99.