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Totes Gebirge

Das Tote Gebirge gehört zu den Nördlichen Kalkalpen und reicht von der Eisenwurzen bis in das Salzkammergut. Über mehr als tausend Quadratkilometer erstreckt es sich beiderseits der Grenze zwischen Oberösterreich und der Steiermark und gilt als größtes hochalpines Karstplateau Mitteleuropas.

Seine höchste Erhebung liegt in der Prielgruppe, deren Hauptgipfel Georg Matthäus Vischer (1628-1696) in seiner Karte des Landes ob der Enns 1669 als "Priel mons Altissimus totius Provintzia" vermerkt hat. Tatsächlich wird der Große Priel (2515 m) an Höhe in Oberösterreich nur noch vom Dachstein übertroffen. Der Name "Totes Gebirge" weist auf dessen wild zerklüftetes, wasserarmes und weitflächig vegetationsloses Erscheinungsbild oberhalb der Baumgrenze hin. Tatsächlich charakterisieren die Berichte seit dem 19. Jh. das Massiv als eine sehr gegensätzlich wirkende Landschaft, wo Schroffes mit Lieblichem wechselt: Teils präsentiert sie sich als eine lebensfeindliche, durch Korrosion bzw. Erosion zerfurchte Felswüste, die von den typischen Formationen des Karsts (Schlunde, Klüfte, Dolinen, Höhlen, Karren) geprägt wird, um andernorts mit Seen, eingestreuten Wiesen, Wäldern oder Latschenfeldern zu kontrastieren. Über Jahrhunderte bietet das an Wild reiche, für die Alm- und Forstwirtschaft geeignete Gebirge Jägern, Wildschützen, Holzknechten und Sennerinnen ein bescheidenes Auskommen. Das entbehrungsreiche, einfache Leben der Menschen und die bizarre Landschaft liefern Stoff für Sagen, die von Kajetan Alois Gloning (1836-1910), Adalbert Depiny (1883-1941), Franz Braumann (1910-2003), Käthe Recheis, dem Grünauer "Märchenerzähler" Helmut Wittmann (geb. 1959) u. a. aufgezeichnet worden sind. Volksmusikalische Überlieferungen aus der Gegend haben etwa Konrad Mautner (1880-1924) in Gößl sowie der aus dem Mühlviertel stammende Bad Ausseer Lehrer Hans Gielge (1901-1970) notiert.

Eine frühe präzise topografische Darstellung des Toten Gebirges stammt von Erzherzog Johann (1782-1859). Anlässlich einer Reise durch die Obersteiermark studiert er im August 1810 die eigentümliche Beschaffenheit des Gebirgszuges. In seinem Tagebuch sammelt er Notizen zu dessen Naturausstattung und landwirtschaftlicher Nutzung. Darüber hinaus entdeckt er den Liebreiz des in die Berge eingebetteten Ausseerlandes, welches ihm als "ein herrlicher mannichfaltiger Garten" (Der Brandhofer... 1930, 10) erscheint. Beschreibungen des Toten Gebirges finden sich wenig später in der Reiseliteratur oder in Druckwerken zum touristischen Gebrauch, wie sie besonders Franz Carl Weidmann (1787 od. 88-1867; Darstellungen aus dem Steyermärk'schen Oberlande bzw. Der Führer nach, und um Ischl, beide 1834; Wegweiser auf Streifzügen durch Oesterreich und Steyermark, 1836), aber auch Adolph Schaubach (1800-1850; dritter Band der Reihe Die deutschen Alpen, 1846) und Johann Georg Kohl (1808-1878) vorgelegt haben. Letzterer widmet sich neben geografischen Aspekten den sprachlichen und volkskulturellen Besonderheiten der Region. In Hinblick auf die anmutigen Almen meint er, "daß dieses Todtengebirge, als ein blos von jungen Mädchen bewohnter Landstrich, auf sehr angenehme Weise belebt sei, und man könnte ihm einen weit hübscheren Namen geben, z. B. das Gebirge der jungen Schäferinnen" (Kohl 1842, 158). Auch in den Veröffentlichungen von Joseph August Schultes (1773-1831), Franz Sartori (1782-1832), Helmina von Chézy (1783-1856) oder Julius von der Traun (d. i. Alexander Julius Schindler, 1818-1885) taucht das Tote Gebirge auf. Mit wissenschaftlichem Interesse nähert sich ihm der Alpenforscher Friedrich Simony (1813-1896). Beeindruckt von der als dramatisch empfundenen öden Szenerie nennt er es "ein schauerliches Golgotha, das bloßgelegte, zerbröckelnde Riesenskelet eines abgestorbenen Erdenstückes" (Simony 1846, 997). Als gestaltende Kräfte macht er neben Witterungseinflüssen glaziale Prozesse aus.

Im Biedermeier wird das Tote Gebirge zum Schauplatz heimischer Prosa und Lyrik. Adalbert Stifter schildert in den Feldblumen (1840) die Überquerung des Gebirges. Im Mittelpunkt steht ein nächtliches Erlebnis am Almsee. Überwältigt von der imposanten Bergkulisse und der Lichtmagie des Vollmondes erfährt der an Liebeskummer und Selbstzweifeln leidende Ich-Erzähler emotionale Vergewisserung und Klarheit. Bei Karl Adam Kaltenbrunner avanciert dieser See gleichfalls zum Ort der Sehnsucht oder Locus amoenus. Hier besinnt sich der getriebene Mensch, kommt zur Ruhe, erkennt das Wesentliche (Erinnerung an den Alm-See, 1827; An Pauline, 1833). Kaltenbrunners Erzählungen, die im Umland des Almsees beheimatet sind, zeichnen sich durch an die Landschaft angepasste Figuren und Repertoire aus. In Sepp, der Holzknecht verarbeitet er den gleichsam vorprogrammierten Konflikt zwischen Jäger und Wilderer, während sich innerhalb einer dörflichen Liebesgeschichte die ethisch-moralische Frage nach der gesellschaftlich akzeptablen und passenden Beziehung stellt (Die Wiedervergeltung). Ähnlich gehalten sind Prosatexte, die Kaltenbrunner im Stodertal bzw. in der Pyhrn-Priel-Region ansiedelt (Der Stellvertreter, Der räthselhafte Schuß). Nicht zu vergessen ist die Versdichtung Kaltenbrunners, die ebenfalls ins Tote Gebirge führt (Dö zween Priel, 1848).

Bad Ischl wie Bad Aussee, die dem Gebirge zu Füßen liegen, entwickeln sich im 19. Jh. zu Zentren des Kurwesens und der Sommerfrische. Das Tote Gebirge gehört zum Jagdrevier der Habsburger Herrscher bzw. des Adels. Während Franz Joseph I. dort auf die Pirsch geht, nützt es Kaiserin Elisabeth für Wanderungen, die sie zu Gedichten anregen (u. a. Legende vom Almsee, Auf der hohen Schrott). Die zehnstündige Tour vom Offensee zur Elmgrube am 21. Juni 1888 (Der längste Tag) hält sie gleichfalls fest wie die Besteigung des Losers (Loserlied). Zur Jahrhundertwende lockt auf steirischer Seite das Ausseerland Schriftsteller der Wiener Moderne an, darunter Hugo von Hofmannsthal. Eindrücke seines ersten längeren Altausseer Sommeraufenthalts fasst er in einem Beitrag für die neu gegründete Münchener Wochenzeitschrift Simplicissimus zusammen (Das Dorf im Gebirge, 1896). Feinsinnig betrachtet der junge Autor, wie bäuerliche Tradition und Arbeit auf großbürgerlichen Lebensstil und Freizeitvergnügen der Fremden prallen. Von 1908 bis 1928 bezieht Hofmannsthal in Obertressen sein Domizil, wo er sich dem 18. Jh., der kulturgeschichtlich von ihm hochgeschätzten Epoche, nahe fühlt. In seiner Korrespondenz rühmt er die Vorzüge der Gegend, die ihn inspiriert und sein Schaffen fördert. Hier arbeitet er am Andreas-Roman, an Theaterstücken (DerSchwierige, Der Turm), Libretti (z. B. Der Rosenkavalier, Ariadne auf Naxos) sowie den Planungen der Salzburger Festspiele. Deutlichere Bezüge zum Toten Gebirge werden bei Jakob Wassermann sichtbar, der als Großstadtflüchtling in Altaussee heimisch wird. Der Landschaft und ihren Menschen setzt er im Tagebuch aus dem Winkel (posthum 1935) ein literarisches Denkmal. Innerhalb seiner Zivilisationskritik postuliert Wassermann die Natur, so wie er sie hier vorfindet, als ordnendes, heilendes Gegenmodell zu urbaner Betriebsamkeit (Joseph Kerkhovens dritte Existenz,1934). Ganz konkret manifestiert sich das Tote Gebirge im Novellenband Der Goldene Spiegel (1911) oder im Roman Ulrike Woytich (1923), der den verheerenden Bergsturz am Sandling vom September 1920 thematisiert.
Nach dem "Anschluss" Österreichs 1938 nehmen einige Schriftsteller die Erinnerung an diese vom Toten Gebirge geprägte Gegend ins Exil mit. So gedenkt Richard Beer-Hofmann in der Skizze Herbstmorgen in Österreich nicht nur der verstorbenen Gattin, sondern beschwört zugleich minutiös die zauberhafte Atmosphäre jenes Landstrichs (Paula. Ein Fragment, 1949). Ebenso kehren Friedrich Torberg (Sehnsucht nach Alt-Aussee, 1942) und Ernst Waldinger (Die kühlen Bauernstuben, 1946) gedanklich in das verlorene Paradies zurück. Raoul Auernheimer (Das Wirtshaus zur verlorenen Zeit, 1948) stilisiert in Erinnerung an das blühende literarische Leben den Altausseer See zum "riesigen Tintenfaß [...], "in das die im Kreise herumsitzenden Dichter ihre Federkiele tauchten" (Auernheimer 1948, 139), während sich Hans Weigel im Schweizer Exil nach dem Grundlsee sehnt (O du mein Österreich!, 1956). Zu den Vertriebenen gehört schließlich Hermann Broch, der vor Ort an seinen Epen Die Verzauberung (Bergroman) und Der Tod des Vergil geschrieben hat.

In der zweiten Hälfte des 20. Jhs. wird das Tote Gebirge literarisch als Geschichtslandschaft bedeutsam, in der Austrofaschismus, Nationalsozialismus und Schoah Spuren hinterlassen haben. Autorinnen und Autoren (aus Oberösterreich) versuchen die Zeichenhaftigkeit des Gebirges zu dechiffrieren, um die missliebige, belastende Vergangenheit, die sich unter den Narben physischer Zerstörung und hinter seelischer Verwundung verbirgt, sichtbar zu machen. Exemplarisch dafür ist die Titel spendende Erzählung des Prosabandes Der Weg zum Ödensee (1973) von Franz Kain, der das Tote Gebirge mehrfach eindrücklich schildert (Der Föhn bricht ein, 1962; Am Taubenmarkt, 1991). Die Erzählung zeichnet die Flucht des SS-Funktionärs und Leiters des Berliner Reichssicherheitshauptamtes Ernst Kaltenbrunner an den Wildensee nach, um sich der Verhaftung und Auslieferung an die Alliierten zu entziehen. Auf seinem Gang durch das winterliche Gebirge streift er Erinnerungen ab und relativiert die drückende Frage nach Schuld und Verantwortung. Kaltenbrunners Hoffnung, so wie die Fußabdrücke im Schnee allmählich aus dem Bewusstsein bzw. der Weltgeschichte zu verschwinden, erfüllt sich letztlich nicht. Kains Schilderung Der Ochsenraub stellt eine Episode aus dem Überlebenskampf der Widerstandsgruppe "Willy-Fred" um Sepp Plieseis vor, deren Mitglieder 1944/45 im Toten Gebirge untertauchen. Ihnen widmet sich später Franzobel mit dem Satirestück Hirschen oder Die Errettung Österreichs (2011), worin er die Polarisierung der Gesellschaft durch dieses verdrängte bzw. tabuisierte Kapitel heimischer Zeitgeschichte darlegt.
Auch bei der Altausseer Schriftstellerin Barbara Frischmuth ist die Heimatidylle brüchig. Inmitten der Natur lauert das Grauen einer unbewältigten Vorzeit, die ihre Fallstricke ausgelegt hat. Diese Zeichen sind verborgen, teils getilgt, letztlich aber unauslöschbar: Die Namen der Täter haben die Gegend verseucht, ihr quasi die Unschuld geraubt. Der "Geographie des Dritten Reiches" (Frischmuth 2001, 139) zugehörig, ist die Landschaft durch die Anwesenheit von Massenmördern bzw. Kriegsverbrechern monströs geworden (Die Entschlüsselung, 2001). Im Roman Die Mystifikationen der Sophie Silber (1976) spiegelt Frischmuth die Naturvernichtung moderner Zivilisation an Erfahrungen mit ideologiebegründeter menschlicher Zerstörung durch den Nationalsozialismus. Hier ist es die Natur der Gebirgswelt, die reagiert: So wie Menschen aus politischen Motiven flüchten müssen, emigrieren auch die Naturgeister als Schicksalsmächte in friedlichere Gefilde. Gezeichnet von menschlichem Schicksal und symbolträchtig überhöht schimmert das Tote Gebirge im Roman Morbus Kitahara von Christoph Ransmayr durch. Obwohl direkte Hinweise fehlen, erinnern der landschaftliche Zuschnitt wie die steilen Ansteige über die Flanken hinauf zum weiten, von Bewuchs freien Karstplateau des "Steinernen Meeres" sowie der in Terrassen angelegte Steinbruch, wo Zwangsarbeiter sich zu Tode schuften mussten, an örtliche Gegebenheiten der Gebirgsausläufer bei Ebensee. Im Œuvre Thomas Bernhards, das etliche Bezüge zum Salzkammergut zeigt, kommt das Tote Gebirge in einzelnen Texten (Ungenach; Wiedersehen, 1982; Auslöschung) nur marginal vor. Hintersinnige Kurzbetrachtungen zu der aus der Ferne bewunderten Bergsilhouette liefert Hugo Schanovsky in seiner Liebeserklärung an das Tote Gebirge (2005). Inzwischen haben auch Verfasser der populär gewordenen regionalen Kriminalgeschichten das Tote Gebirge als Tatort für sich entdeckt, etwa der 1958 in Schwanenstädter geborene Herbert Dutzler in seiner Altausseer Romanreihe (z. B. Letzter Gipfel, 2012). Totes Gebirge heißt schließlich auch ein Schauspiel des Schlierbacher Dramatikers Thomas Arzt, das am 21. Jänner 2016 im Theater in der Josefstadt uraufgeführt wurde. Die Protagonisten tragen zum Teil Namen von Gipfeln jenes Gebirges, das als Metapher für die karge Seelenwelt depressiver, am neoliberalen Leistungsdenken gescheiterter Menschen, deren Gefühle und Sprache versteinern, fungiert.

Arnold Klaffenböck

 

 

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