Die Vita Severini enthält nicht eigentlich die Vita (= Heiligenleben) des Severinus, sondern schildert dessen Wirken in Ufernorikum vom ersten Auftreten bald nach dem Tode Attilas (453 n. Chr.) bis zu seinem Tod am 8. Jänner 482 (Gedenktag). Als hagiografische Schrift angelegt, bietet das Werk gleichwohl wertvolle Informationen über politische und wirtschaftliche Zustände in den Donauprovinzen zur Zeit der ausgehenden Römerherrschaft und ist somit als Geschichtsquelle anzusehen (vgl. Noll 1963, 25f.).
Nachrichten über den Verfasser bietet sein Werk. Er dürfte um 465 geboren und nach 522 gestorben sein; seine Herkunft ist unbekannt. Als junger Mann schloss er sich Severinus kurz vor dessen Tod an, war bei diesem anwesend, ebenso bei der Erhebung des Leichnams 488, als die militärische Präsenz Roms an der Donau durch Odoaker aufgegeben wurde und Severins Gemeinschaft unter Mitnahme der Reliquien nach Italien zog. Dort bot ihnen eine vornehme Frau namens Barbaria einen Aufenthaltsort in Castellum Lucullanum bei Neapel (heute Pizzofalcone, c. 46). Hier war Eugippius Leiter der Mönchsgemeinschaft, für die er eine Mönchsregel (Regula Eugippii) verfasste, die als Vorstufe der Benediktinerregel gilt. Die Reliquien Severins befinden sich heute in der Kirche von Frattamaggiore bei Neapel.
Der Vita sind zwei Briefe vorausgestellt: ein Schreiben des Eugippius an einen sonst nicht bekannten Diakon Paschasius und dessen Antwort. Eugippius bittet Paschasius, aus seinem Commemoratorium (Denkschrift) eine rhetorisch durchgeformte Biografie zu machen (Bescheidenheitstopos). Paschasius bezeichnet die Arbeit des Eugippius indes als bereits vollkommen. Tatsächlich beachtet Eugippius die Regeln der antiken Rhetorik und setzt ihre Stilmittel kunstvoll ein. Auch bedient er sich einer durchdachten Terminologie für kirchliche Begriffe. Barbaria war möglicherweise Mutter des Romulus Augustulus; daher ist eine Beziehung Severins zu höchsten römischen Familien anzunehmen. Er selbst wollte über seine Herkunft nichts sagen, die Vita schweigt darüber. Doch ist sein hoher Rang in der Forschung unbestritten.
Aus dem Osten kommend, wo er sich in mönchischen Gemeinschaften aufgehalten hat, tritt er zuerst in Asturis (Klosterneuburg) auf; in Favianis (Mautern/Donau) nimmt er seinen Hauptsitz und begründet eine Mönchsgemeinschaft. Zu Gebet und Meditation zieht er sich bisweilen in eine Zelle in den Weinbergen zurück, wo ihn der Skire Odoaker auf seinem Weg nach Rom aufsucht und die Verheißung der Herrschaft Italiens empfängt (c. 7), wofür er Severinus später einen Wunsch freistellt (c. 32). Er war kein Priester, scheint aber solches Ansehen besessen zu haben, dass sowohl Priester als auch örtliche Behörden seine Anweisungen befolgten. Die Könige der germanischen Rugier, deren Sitz nördlich der Donau gegenüber Favianis lag, betrachteten ihn als Autorität und suchten seinen Rat (c. 8 u. 31). Seine Tätigkeit war eher karitativ-organisatorisch als religiös. Dennoch zeichnet ihn die Vita als "Mann Gottes" ("vir Die", c. 6 al.); in allen Bedrängnissen empfiehlt er den Ratsuchenden die "geistlichen Waffen" Beten, Fasten und Almosengeben (c. 1 u. 12). Die Orte, von denen ein Aufenthalt Severins berichtet wird, liegen mit wenigen Ausnahmen (Iuvavum - Salzburg; c. 13 u. 14 und Cucullis - Kuchl; c. 11 u. 12) an der Donau; einer (Quintanis - Künzing, c. 15) in Oberrätien, alle anderen in Ufernorikum.
Die Vita umfasst 46 Kapitel, die - mit Ausnahme des dreiundvierzigsten, das über den Tod des Heiligen und die vorangehende Ansprache an seine Mönchsgemeinde berichtet -, jeweils eine wundersame Begebenheit erzählen. Die Wunder betreffen Warnungen, unerklärbares Vorauswissen zukünftiger Gefahren, Trost und Hilfe in Bedrängnissen, aber auch - nach biblischem Vorbild stilisiert - Krankenheilungen (c. 14). Oft beruft sich Eugippius dabei auf Gewährsleute und Augenzeugen, meist ältere Mitglieder der Gemeinschaft, als deren Sprachrohr er sich versteht, und fügt dem Bericht eine spirituelle Auslegung mit Verweisen auf biblische Vorbilder hinzu.
Neben Favianis kommt Lauriacum (Lorch) eine nicht unwichtige Rolle in der Schrift zu. Dorthin übersiedeln die von den Alemannen bedrohten Romanen an der oberen Donau von Boiotro (Passau/Innstadt) auf Severins Geheiß. Die Wunder in Lauriacum stehen zumeist mit wirtschaftlichen Notlagen in Zusammenhang: der Heilige lässt in der Kirche an Bedürftige Öl verteilen, wobei sich der Krug nicht leert, bis ihn ein unvorsichtiges Wort zum Versiegen bringt (c. 28); Getreiderost wird durch sein Gebet abgewendet (c. 18); ein Kleidertransport aus Binnennorikum über den Tauernpass wird durch einen Bären aus dem Tiefschnee geführt (c. 29; Predellenbild vom Severinsaltar Neapel, heute München; vgl. Zinnhobler/Widder 1982, Abb. 24); ein Überfall auf die Stadt wird durch seine rechtzeitige Warnung vereitelt (c. 31).
Eine Verehrung des Heiligen bzw. Patrozinien gibt es in Passau/Innstadt, Linz, Wien-Sievering und Neapel. Severin ist in sakraler, aber auch profaner Kunst oftmals dargestellt (vgl. Zinnhobler/Widder 1982), literarische Darstellungen beruhen größtenteils auf der Schrift des Eugippius (vgl. Krzisch 1950).
Franz Witek
Eugippi Vita Sancti Severini ed. Th. Mommsen: MGSS rer.Germ. Hannover 1898. - Eugippi Vita Sancti Severini ed. M. Schuster CSEL 6, Wien 1946. - Eugippius: Das Leben des heiligen Severin (latine-germanice) ed. R. Noll und E. Vetter, Berlin 1963 (Lizenzausgabe Passau 1981). - Eugippius: Vita Sancti Severini (latine-germanice) RUB 8285 ed. Th. Nüßlein, Stuttgart 1986.
Baldermann, Hermann: Die Vita Severini des Eugippius. In: WS 74 (1961), 142-155; 77 (1964), 162-175. - Bratož, Rajko: Severinus von Noricum und seine Zeit. Wien 1983. - Knapp-Menzl, Klemens: Mönchtum an Donau und Nil. Severin von Norikum und Schenute von Atripe. Zwei Mönchsväter des fünften Jahrhunderts. Innsbruck 1997. - Kramert, Klemens; Winter, Ernst K.: St. Severin. Der Heilige zwischen Ost und West, 2 Bde. Klosterneuburg 1958f.. - Krzisch, Martha: Die Gestalt des heiligen Severin in der deutschen Literatur. Diss. Universität Wien 1950. - Lotter, Friedrich: Severinus von Noricum. Legende und historische Wirklichkeit. Stuttgart 1976. - Pohl, Walter; Diesenberger, Max (Hg.): Eugippius und Severin. Der Autor, der Text und der Heilige. Wien 2001. - Régerat, Philippe: "Vir Dei" als Leitbild in der Spätantike. Das Beispiel der Vita Severini des Eugippius. In: Jürgen Dummer und Meinolf Vielberg (Hg.): Zwischen Historiographie und Hagiographie. Stuttgart 2005, 61-78. - Ruprechtsberger, Erwin M: Beobachtungen zum Stil und zur Sprache des Eugippius. In: Römisches Österreich 4 (1976), 227-229. - Schmeja, Hans: Zur Latinität der Vita Sancti Severini des Eugippius. In: Paul Händel (Hg.): Festschrift für Robert Muth. Innsbruck 1983, 425-436. - Straub, Dietmar (Hg.): Severin zwischen Römerzeit und Völkerwanderung. Ausstellung des Landes Oberösterreich, 24. April bis 26. Oktober 1982 im Stadtmuseum Enns. Linz 1982. - Zinnhobler, Rudolf; Widder, Erich: Der heilige Severin-Sein Leben und seine Verehrung. Linz 1982.