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Walther von der Vogelweide

Illustration aus der Manessischen Liederhandschrift; © Universitätsbibliothek Heidelberg

Geb. ca. 1170, gest. ca. 1230.
Unter dem Namen des bedeutendsten mittelhochdeutschen Lyrikers sind rund 500 Strophen erotischen, politischen, moralischen und religiösen Inhalts überliefert.

Dass Oberösterreich die Geburtsheimat Walthers sei, wurde noch nie ernsthaft behauptet. Dabei ließen sich für Oberösterreich ebenso gute und schlechte Argumente finden wie für Südtirol, Franken oder das Waldviertel, genauer die Zwettler Gegend (womit man schon nahe an Oberösterreich wäre). Argumentieren könnte man wie in den genannten Fällen mit dem Namenszusatz "Vogelweide", und so wäre vielleicht an die Welser Heide (Wels) oder das Salzkammergut mit seiner Tradition der Singvogeljagd zu denken. Sogleich aber wäre einzuwenden, dass "Vogelweide" ebenso gut und im wahrsten Sinne des Wortes ein "nom de plume", ein Name der Feder, sein könnte: Denn zwischen Minnesängern und Singvögeln besteht eine gewisse Affinität und folgerichtig wird Walther im Tristanroman Gottfrieds von Straßburg (um 1210) als "Leitherrin der minnesingenden Nachtigallen" gewürdigt. Aus Walthers Liedern ließen sich weitere biografische Evidenzen ziehen, beispielsweise die Klage des gealterten Ich in der sogenannten Elegie (L 124,1), der Wald im Land seiner Kindheit sei niedergehauen. Zu suchen wäre demnach ein oberösterreichischer Ort, an dem um 1220/30 umfangreiche Rodungen vorgenommen wurden.

Die eher gesicherten biografischen Daten führen freilich von Oberösterreich weg an den Wiener Hof, wo Walther "singen und sagen" gelernt haben will. Sein weiterer Lebensweg scheint mehr kosmopolitisch als regional verlaufen zu sein. Das einzige gesicherte urkundliche Zeugnis bringt Oberösterreich aber wieder ins Spiel: Am Tag nach Martini, also am 12. November 1203, zahlte der Passauer Bischof Wolfger von Erla (ca. 1140-1218) an den "cantor Walther de Vogelweide" im niederösterreichischen Zeiselmauer fünf "solidi longi", fünf große Silberschillinge. Somit muss Walther 1203 wenigstens für kurze Zeit in Wolfgers Diensten gestanden haben und auf dem Weg von Passau nach Wien oder von Wien nach Passau auch oberösterreichischen Boden betreten haben. Das ist bei einer derart unsicheren Biografie nicht nichts.
Und doch wären solche Konstruktionen der Ausfluss einer vortheoretischen Literaturbetrachtung, die die Texte als Allegorie des Autorlebens begreift. Dabei lehrt uns die jüngere Literaturtheorie, namentlich der französische Theoretiker Roland Barthes, dass der Autor vielmehr eine Allegorie des Textes sei (vgl. Barthes 2000).

So wäre weniger Walther als oberösterreichischer Dichter, denn manche Walther-Lieder als oberösterreichische Poesie zu begreifen, nämlich dann, wenn man Texttraditionen an Kulturräume rückbinden möchte (wobei Texttraditionen eher Kulturräume erzeugen als umgekehrt). Walthers lyrisches Werk erweitert die Möglichkeiten und Register mittelhochdeutschen Dichtens beträchtlich, indem es etwa auf die "naiven" Modelle des Donauländischen Minnesangs zurückgreift und sie mit dem sprachlichen und poetischen Vermögen der hochhöfischen Dichtkunst neu gestaltet. Dies gilt konkret für jene sinnlich-erotischen Lieder, die mit dem Phantasma einer "freien" Liebe im Grünen spielen, wie es Dietmar von Aist entworfen hat. Auf Dietmars Strophe von der Dame auf der Heide (MF IV) und auf sein sogenanntes Tagelied (MF XIII) lassen sich Walthers berühmte Lieder Under der linden (L 39,11) und Nemt, frouwe, disen kranz (L 74,20) mit Gewinn beziehen.

Ins Oberösterreichische weist auch die wenig wahrscheinliche, aber schöne Theorie, Walther sei der Dichter des Nibelungenliedgewesen. Denn die Nibelungenstrophe ließe sich aufgrund ihrer Nähe zur Strophe des Kürenberger (Der von Kürenberg) als oberösterreichische Form begreifen. Und was läge näher, als dass Wolfger von Erla Walther die stattlichen fünf Schillinge für jenes große Epos bezahlt hätte, mit dessen Entstehung der Bischof ohnehin gerne in Verbindung gebracht wird?
Bleibt ein fester Oberösterreich-Bezug zu vermerken: Es ist die Kremsmünsterer (Kremsmünster) Handschrift CC 127 aus dem frühen 13. Jh., die eine wichtige, mit Neumen versehene Version von Walthers Frauenpreis Si wunderwol gemachet wîp (L 53,25) überliefert.

Manfred Kern

 

Werke. Mhd./Nhd. Hg., übers. und komm. von Günther Schweikle. Bd 1 (Spruchlyrik). Stuttgart 1994; Bd. 2 (Liedlyrik). Stuttgart 1998 [Walthers Lieder werden nach der ersten Ausgabe durch Karl Lachmann von 1827 gezählt] ( = L). - Moser, Hugo; Tervooren, Helmut (Hg.): Des Minnesangs Frühling. Bd. 1 (Texte). 38. Aufl. Stuttgart 1988; Bd. 2 (Editionsprinzipien, Melodien, Handschriften, Erläuterungen). 36. Aufl. Stuttgart 1977 (= MF).

Barthes, Roland: Der Tod des Autors [1968]. In: Fotis Jannidis u. a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000, 185-193. - Bein, Thomas: Walther von der Vogelweide. Stuttgart 1997. - Birkhan, Helmut; [Cotten, Ann] (Hg.): Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide - Wolfger von Erla - Zeiselmauer. Vorträge gehalten am Walther-Symposium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 24.-27. September 2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich). Wien 2005. - Scholz, Manfred Günther: Walther von der Vogelweide. 2. Aufl. Stuttgart 2005.