Titelgebend für Thomas Bernhards in der edition suhrkamp erschienene Erzählung ist ein hauptsächlich in Österreich, Südtirol, Bayern und der Schweiz praktiziertes Kartenspiel, an dem sich allerdings der Ich-Erzähler, ein Arzt, dem man wegen des Verdachts des Morphiummissbrauchs seine Praxis gesperrt hat, nicht mehr beteiligen will. Der Untertitel Ein Nachlaß und die Thematik einer "Abschenkung" stellen einen Zusammenhang her zu der im Jahr zuvor erschienenen Erzählung Ungenach und fügen sie ein in eine bis zum letzten Roman Auslöschung reichende Reihe Bernhardscher Werke, die sich mit dem "Herkunftskomplex" beschäftigen. Aus dem "Verkauf der Liegenschaft Oelling" zu einem größeren Geldbetrag gekommen, schenkt der Erzähler diesen dem Mathematiker und Juristen Undt, der sich der Situation "gerade entlassener Strafhäftlinge" (75) annimmt. Zugleich kommt er dessen Aufforderung nach, ihm eine "Selbstbeschreibung" (76) zu liefern, die den Rest der Erzählung ausmacht. Zentrale Binnengeschichte ist dabei der Selbstmord des Papiermachers Siller, der in mehrfacher Brechung geschildert wird - durch den Fuhrmann, der den Arzt drängt, wieder watten zu gehen, und den Reisenden, der Siller "auf einem Baum an der Schottergrube gefunden hat" (97) - und den der berichtende Arzt nicht nur im Hinblick auf die Abende des gemeinsamen Wattens im Gasthaus einen notwendigen und unerlässlichen Menschen nennt. Der Tod Sillers ist zumindest ein Grund, wieso er nun auch »nicht mehr watten gehen« will, eine Wendung, die in ihrer leitmotivischen Wiederholung geradezu zur Chiffre für das Existieren schlechthin wird. Wiewohl Watten nicht zur Gruppe der autobiografischen Erzählungen im engeren Sinn gehört und auch geografisch nicht exakt verortet wird, so finden sich doch Bauwerke, signifikante Natur- und Kulturräume aus der näheren Umgebung von Bernhards Obernathaler Vierkanthof, die zusammen mit fiktionalen Elementen in den Kontext der Erzählung eingefügt werden, etwa die Papierfabrik, die Schottergrube oder die Traun.
Ingeborg Bachmann (1926-1973) erkannte in Watten bereits im Jahr des Erscheinens "das Neue", "das Zwingende, das Unausweichliche und die Härte" und sprach von Bernhards Prosa als "Bücher über die letzten Dinge, über die Misere des Menschen, [...] die Verstörung, in der sich jeder befindet" (Bachmann 1978, 363f.). In der späteren Forschung wurde mit der Erzählung ein neuer Abschnitt in Bernhards Prosaschaffen gesehen, in der er zur Form des "theatralisch-musikalischen Monolog[s] eines zur Stimmenfigur reduzierten tragikomischen Helden" (Herzog 1989, 9; zit. nach Mittermayer 1995, 58) gefunden habe, zu einer "formalisierte[n], in sich kreisende[n] Rede, die von den musikalischen Prinzipien der Wiederholung, Entgegensetzung und Variation dominiert wird" (Herzog 1994, 109f.). Nicht zuletzt wurde aber auch auf "die sich freispielende Komik" (Höller/Mittermayer im Nachwort zu Watten, 245) verwiesen.
Martin Huber
Watten. Ein Nachlaß. In: Thomas Bernhard: Erzählungen II. Hg. von Hans Höller und Manfred Mittermayer. Frankfurt/Main 2006 (= Ders.: Werke. Hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler, Bd. 12), 73-139 (Nachwort 244-254).
Bachmann, Ingeborg: [Thomas Bernhard:] Ein Versuch. In: dies.: Werke. Hg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. München 1978, Bd. 4, 361-364. -Gamper, Herbert: "Eine durchinstrumentierte Partitur Wahnsinn". In: Anneliese Botond (Hg.): Über Thomas Bernhard. Frankfurt/Main 1970, 130-136. - Herzog, Andreas: Von Frost (1963) zu Auslöschung (1986). Grundzüge des literarischen Schaffens Thomas Bernhards. Univ.-Diss. (masch.) Leipzig 1989. - Ders.: "Vom Studenten der Beobachtung zum Meister der Theaterkunst". Bernhard I, Bernhard II, Bernhard III. In: Franz Gebesmair und Alfred Pittertschatscher (Hg.): Bernhard-Tage Ohlsdorf 1994. Materialien. Weitra o. J. (1995), 99-124. - Knapp, Gerhard P.: Thomas Bernhard: Watten. Ein Nachlaß. Ereignisse. In: Neue Deutsche Hefte 1970, H. 3, 139-147. - Rochelt, Hans: Vom Selbstgespräch des Leidenden. In: Die Rampe 1980, H. 2, 37-59.