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Witiko

Manuskriptseite; © Adalbert-Stifter-Institut / StifterHaus

Historischer Roman in drei Bänden von Adalbert Stifter, erschienen 1865-67 bei Gustav Heckenast in Pest.

Auf der Grundlage von Franz Palackys Geschichte von Böhmen erzählt Adalbert Stifter den Aufstieg des jungen Adeligen Witiko zum Lehensherrn in Südböhmen. Die Handlungszeit umfasst die Jahre 1138-1184: In Böhmen führen die PÅ™emysliden einen Thronfolgekrieg, den Wladislaw II. für sich entscheidet; Friedrich I. Barbarossa besteigt als erster Staufer den deutschen Kaiserthron und versucht seine Macht in Oberitalien zu behaupten; 1156 wird Österreich unter den Babenbergern zum Herzogtum erhoben. Mit diesen historischen Ereignissen ist der Lebensweg Witikos verwoben, wobei er, ausgehend von einem Gut in Oberplan, seinen Handlungsraum in konzentrischen Kreisen erweitert. Er erwirbt sich durch seine Taten Ruhm und Ansehen, was ihm die Belehnung mit Waldland in Südböhmen einbringt. Dort baut er eine Burg und gründet mit Bertha von Schaunburg eine Familie. Dieser Zielpunkt der Romanhandlung wird über viele Stationen erreicht, auf denen Witiko einerseits an politischen Konflikten und kriegerischen Auseinandersetzungen teilnimmt, und andererseits immer wieder in die Abgeschiedenheit des Waldlandes zurückkehrt, um die Gemeinschaft mit den Waldleuten zu pflegen.
Stifter entwirft eine konservative Utopie, in der patriarchalische Strukturen nicht durch autoritäre Machtausübung, sondern durch humane und egalitäre Beziehungen legitimiert werden. Dieser gesellschaftlichen Modellierung dient die Familie, die als Garant gedeihlicher Entwicklungen nicht nur auf regionaler, sondern auch auf überregionaler Ebene ins Spiel kommt. Stifter betont im Witiko die familiären Bande zwischen PÅ™emysliden, Babenbergern und Staufern, da sie der Lösung politischer Konflikte zwischen ihren Ländern förderlich gewesen sind. Damit wird der Roman vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen seiner Entstehungszeit zu einem Gegenbild, das im Spiegel der Geschichte den Dualismus zwischen Österreich und Preußen sowie die nationalen Spannungen zwischen Deutschen und Tschechen in Böhmen konterkariert. 

Während der Arbeit am Witiko stellte Stifter wiederholt Überlegungen zur Geschichte an. Dabei stand seine Überzeugung auf dem Prüfstand, dass das "Sittengesetz" die Grundlage bildet, auf der wir "die Menschheit in der Geschichte wie einen ruhigen Silberstrom einem großen ewigen Ziele entgegen gehen sehen" (Vorrede). Dieses geschichtsphilosophische Postulat der Aufklärung, das im Witiko demonstriert werden sollte, wird sowohl durch das Studium der Geschichtsquellen als auch durch die zeitpolitischen Entwicklungen brüchig. Insbesondere der Krieg, den Stifter als unvernünftig verabscheut, bleibt für ihn ein unlösbares Problem. Wenn daher im Witiko Krieg und Gewalt zum Thema werden, so auf janusköpfige Weise, da einerseits die zerstörerischen Folgen drastisch vor Augen geführt werden und andererseits die Frage ihrer Rechtmäßigkeit in rhetorischer Breite verhandelt wird. Es mag in Stifters Intention gelegen sein, im Witiko das Wirken des Sittengesetzes in der Geschichte aufscheinen zu lassen und dabei das Phänomen des Kriegs als Mittel der Läuterung oder als ultima ratio des Rechts erscheinen zu lassen. Die Wahl der epischen Gestaltungsmittel des Romans unterläuft jedoch diese Absicht, da die geschichtlichen Ereignisse von einem neutralen Erzähler vermittelt und von den Figuren unterschiedlich interpretiert werden, was den Roman einer ideologischen Festlegung entzieht und der ästhetischen Moderne annähert. 

Die zeitgenössische Kritik stand Stifters Witiko überwiegend ablehnend gegenüber, weil einerseits der epische Stil mit seinen Reihungen und Wiederholungen sowie die Ritualisierungen des Geschehens der Ästhetik des poetischen Realismus nicht entsprochen haben und andererseits der geschichtliche Stoff deutschnationale Tendenzen durchkreuzt hat. Diese Unzeitgemäßheit des Romans, die ihm eine unverwechselbare Stellung in der Gattungsgeschichte zuweist, hat dazu beigetragen, dass er nach seinem Erscheinen bald in Vergessenheit geraten ist. Erst nach dem Ersten Weltkrieg hat Hermann Bahr 1921 den Witiko wiederentdeckt und ihn mit Blick auf die neuen politischen Verhältnisse aktualisiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man den Roman als Weißbuch für die Wiedererrichtung einer rechtsstaatlichen Ordnung rezipiert. Besondere Beachtung hat das Werk im Umfeld der Sudetendeutschen gefunden. Die konfliktreiche Geschichte zwischen Deutschen und Tschechen führte einerseits zu revanchistischen Vereinnahmungen, andererseits galt der Roman als Modell der Versöhnung. Die politische Lesart des Witiko hat sich bis in die Gegenwart herauf erhalten, wenn zum Stifter-Jubiläum 2005 die europäische Dimension des Romans im Sinne eines visionären Blicks gewürdigt wird.

Wolfgang Wiesmüller

 

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