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Die Wand

Cover der Erstausgabe 1963

Roman und Hauptwerk von Marlen Haushofer, erschienen 1963 bei Sigbert Mohn (Gütersloh).

Der Kritiker Edwin Hartl bezeichnete das Buch als "vermutlich die originellste Utopie der modernen Weltliteratur: weil sie es wagt, auf alles ‚Originelle‛ zu verzichten" (Hartl 1964, 64). Haushofers Mentor Hans Weigel (1908-1991) verglich es mit Albert Camus' Die Pest und Daniel Defoes Robinson Crusoe, die Kritik bemängelte aber auch das Fehlen einer religiösen Perspektive und die Leichtigkeit, mit der die Ich-Erzählerin sich schließlich mit dem Verschwinden ihrer Mitmenschen abfindet.
Die Wand erzählt eine weibliche Robinsonade: Eine Frau fährt mit einem Ehepaar zu einem Kurzurlaub in deren Jagdhaus. Die Gastgeber spazieren am Abend ins nahe Dorf und kehren nicht wieder zurück. Auf der Suche nach ihnen stößt die Frau auf eine durchsichtige Wand, hinter der offenbar alles Leben, mit Ausnahme der Pflanzen, erstorben ist. Die Frau muss sehen, wie sie in dem vom Rest der Welt abgeschnittenen Waldgebiet überlebt. Zu Luchs, dem Jagdhund des Paares, gesellen sich eine trächtige Kuh und eine Katze. Eines Tages taucht ein Mann auf, der das Kalb der Kuh und Luchs tötet und darauf von der Frau getötet wird.

Österreich wird als Schauplatz der Katastrophe explizit genannt, die oberösterreichische Landschaft, in der der Roman unverkennbar angesiedelt ist, bleibt jedoch anonym: Am Fuße des Sengsengebirges, nahe dem Wallfahrtsort Frauenstein, verbrachte Marlen Haushofer ihre Kindheit. Die realen Vorbilder der im Buch erwähnten Örtlichkeiten lassen sich trotz veränderter Topografie noch heute auffinden: die "Schlucht", in der die Frau auf die Wand trifft, im engen Tal des Effertsbaches, das "Jagdhaus" in der Lackenhütte aus den zwanziger Jahren und die "Alm" in den Hüttenruinen der Haidenalm.
Haushofer erzählt die Geschichte in der ersten Person, der Rahmen ist durch die Aufzeichnungen vorgegeben, die die Erzählerin über die zweieinhalb Jahre ihres Walddaseins beginnt: "Ich schreibe nicht aus Freude am Schreiben; es hat sich eben so für mich ergeben, daß ich schreiben muß, wenn ich nicht den Verstand verlieren will." (7) Mit Hilfe von Kalendernotizen schildert das Ich minutiös, wie es Leben und Überleben organisiert, wie es, ein Stadtmensch par excellence, lernt, die Kuh zu melken, Erdäpfel anzubauen, Rehe zu schießen.
So lässt sich Die Wand als existenzialistische Parabel deuten, als Antwort auf Albert Camus' Roman Die Pest, in dem die Seuche eine moderne Stadt heimsucht und deren Sozialgefüge erschüttert. Bei Haushofer ist die Versuchsanordnung noch zugespitzt, die Heldin ist ganz allein, alles Mitmenschliche scheint ausgeblendet. Der Mythos von Sisyphos (Camus)erscheint hier als Mythos einer Frau, die, dem Absurden ins Auge schauend, ihr Tagwerk verrichtet und momentweise, auf jener Alm, wo sie mit ihren Tieren die Sommer zubringt, zu einer un-christlichen Erfahrung von Alleinheit findet, den "großen Glanz des Lebens" (211) sieht: "Ich suchte nicht mehr nach einem Sinn, der mir das Leben erträglicher machen sollte." (209)

Leuchtet Haushofer in ihren anderen Romanen das frustrierende Dasein der bürgerlichen Hausfrau aus, so hat sie in Die Wand die von Simone de Beauvoir beschriebene hausfrauliche Sisyphosarbeit gleichsam veredelt: Weil das Planen und Ordnen, das Haushalten mit Vorräten und das Einkochen nun dem Überleben dient, ist es der Banalität enthoben.
Im Gegensatz zu Haushofers übrigen Heldinnen gelingt der Protagonistin der Wand tatsächlich die Befreiung von gesellschaftlichen Fesseln - freilich um den Preis der Ausrottung der Menschheit. Sie allein findet "zur Bejahung ihrer Pflichten" (Haushofer, zit. nach Strigl 2007, 269), sie akzeptiert die Verantwortung für sich und "ihre" Tiere, weil sie damit dem Prinzip des Lebens dient. Die Welt, die die "Wand" hervorgebracht hat, die Welt der Massenvernichtungswaffen und des Todes, ist eine Männerwelt, sie wird (von der Autorin) mit alttestamentarischer Härte bestraft. Die Wand ist auch eine Reaktion auf den Kalten Krieg und das Wettrüsten der Supermächte.

Wie Thomas Bernhards im selben Jahr publizierter Romanerstling Frost thematisiert Haushofers Roman den Rückzug des Individuums aus dem zivilisatorischen Zusammenhang der Stadt in einen ahistorischen Raum, eine fremde oder gar feindselige Natur. Aus beiden Werken spricht ein gerüttelt Maß an Aggression gegen die optimistische Fortschritts- und Konsumideologie der Wirtschaftwunder-Zeit. Marlen Haushofer empfindet für sie ein Gefühl fundamentaler Fremdheit: "jene Wand, die ich meine, ist eigentlich ein seelischer Zustand, der nach außen plötzlich sichtbar wird." (Strigl 2007, 264) Psychoanalytisch interpretiert (nach Erika Danneberg) steht die auch von Ingeborg Bachmann verwendete Metapher der Wand für einen aus dem Gefühl der Ohnmacht resultierenden kindlichen Hass. Die phallische Selbstermächtigung der Frau am Schluss - sie greift zum Gewehr und tötet quasi im Namen des Lebens - verstörte auch die Frauenbewegung der 1980er Jahre, die Die Wand dennoch zum Kultbuch machte. 2012 wurde der Roman vom österreichischen Regisseur Julian Pölsler mit Martina Gedeck in der Hauptrolle verfilmt.

Daniela Strigl

 

Die Wand. Roman. München 1998 [Referenzausgabe]. - Die Wand. Mit Materialien. Ausgew. von Siegfried Herbst. Stuttgart, Leipzig 2008.

Brüns, Elke: Außenstehend, ungelenk, kopfüber weiblich: psychosexuelle Autorpositionen bei Marlen Haushofer, Marieluise Fleißer und Ingeborg Bachmann. Stuttgart 1998. - Caviola, Hugo: Behind the Transparent Wall: Marlen Haushofer's Novel Die Wand. In: Modern Austrian Literature 24 (1991), H. 1, 100-112. - Hartl, Edwin (ohne Titel). In: Wort in der Zeit 1964, H. 1, 64. - Polt-Heinzl, Evelyne: Marlen Haushofers Roman Die Wand im Fassungsvergleich. Die Entwicklung der Ich-Erzählerin. In: Anke Bosse und Clemens Ruthner (Hg.): "Eine geheime Schrift aus diesem Splitterwerk enträtseln ..." Marlen Haushofers Werk im Kontext. Tübingen 2000, 59-77. - Rathenböck, Elisabeth Vera: "Niemand wird nach meinem Tod wissen, daß ich die Zeit ermordet habe." Leben im Spiegel der Zeit. Eine Betrachtung entlang von Marlen Haushofers Die Wand. In: Die Rampe 2000, H. 2, 129-153. - Roebling, Irmgard: Arche ohne Noah - Untergangsdiskurs und Diskursuntergang in Marlen Haushofers Roman Die Wand. In: Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Bd. 8. Würzburg 1998, 74-91. - Schmidjell, Christine: Zur Werkgenese von Die Wand anhand zweier Manuskripte. In: Anke Bosse und Clemens Ruthner (Hg.): "Eine geheime Schrift aus diesem Splitterwerk enträtseln ...", a. a. O., 41-58. - Schweikert, Uwe: Im toten Winkel: Notizen bei der Lektüre von Marlen Haushofers Roman Die Wand. In: Anne Duden u. a. (Hg.): "Oder war da manchmal noch etwas anderes?" Texte zu Marlen Haushofer. Frankfurt/Main 1986, 11-20. - Strigl, Daniela: Marlen Haushofer. Die Biographie. München 2000 (erw. Neuaufl.: "Wahrscheinlich bin ich verrückt ...". Marlen Haushofer - die Biographie. Berlin 2007). - Dies.: Die Wand (1963) - Venter, Francois: Marlen Haushofers Roman Die Wand als écriture feminine. In: Acta Germanica 22 (1994), 57-66.