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Böhmerwald

Postkarte Oberplan/Moldauherz; Sammlung Otto Jungmair; © Adalbert-Stifter-Institut / StifterHaus

Der Böhmerwald ist ein dicht bewaldetes Mittelgebirge aus Graniten und Gneisen, das sich von der bayerischen Seite der Wondrebsenke im Nordwesten über Böhmen bis zum Hohenfurther Sattel im Südosten an der österreichisch-tschechischen Grenze erstreckt.

Geformt "aus vielen Berghalden, langgestreckten Rücken, manchen tiefen Rinnen und Kesseln" ist das Gebirge "je höher hinauf, immer mehr mit den Bäumen des Waldes geziert", schreibt der im böhmischen Horní Planá (Oberplan) geborene Schriftsteller Adalbert Stifter in seinem Roman Witiko (1865-67), "bis es im Arber [mit 1456 m], im Lusen, im Hohensteine, im Berge der drei Sessel und im Blöckensteine die höchste Stelle und den dichtesten und an mehreren Orten undurchdringlichen Waldstand erreicht" (Stifter 2005a, 11ff.). Von vielen Flüssen und Quellen durchzogen, bildet das Waldgebirge eine Wasserscheide zwischen Nordsee und Schwarzem Meer; es entwässert nach Südwesten zur Donau durch die Waldnaab, Schwarzach, Regen und Ilz, nach Nordosten zur Elbe durch die Moldau, "welche in vielen Windungen und im moorigen Boden, der sich aus dem Walde herausgelöst hat" (ebd., 12), das Gebirge durchfließt - "weithin sichtbar, erst ein breiter Lichtfaden, dann ein flatternd Band, und endlich ein breiter Silbergürtel, um die Wölbung dunkler Waldesbusen geschlungen" (Stifter 2005b, 262).
Der Granitstein verhindert ein schnelles Versickern des Wassers und macht den Wald zu einem gewaltigen Wasserspeicher. Der Boden ist feucht, moosbewachsen und moorig. Das bemerkt auch Hermann Lenz (1913-1998) auf seinen Wanderungen durch den Böhmerwald - den "aufgeweichten Tannennadelboden" (Lenz 1987, 137), die "Bächlein zwischen hohen Tannen und buschigem Farngestrüpp", das Moos "saftig grün mitten im Weg, über den eine Wasserader rieselt" (Lenz 1997, 25). Der feuchte Boden ist ideal für das Wachstum von Beeren und Pilzen; so bietet der Böhmerwald auch dem Ärmsten, "dem kein noch so winziges Stück Land zu eigen gehört, seine Erntegründe" (Herzogenberg 1980, 233), notiert der Lyriker Johannes Linke (1900-1945). Und sein berühmter Kollege aus München, Eugen Roth (1895-1976), schwärmt vom Wald, als einem "kleinen Reich der Waldtiere und Fische, der Pilze und Erdbeeren, der Vögel und Falter" (Schreiber 2007, 215), das bewirtschaftet wird von Holzarbeitern, Jägern, Sammlern, Köhlern, Pechbrennern, Steinklopfern und Glasbläsern - dem Figurenpersonal Stifters und anderer Böhmerwalddichter.

Die Quellen, Flüsse und Berglüfte halten den Wald kühl. Im Wanderer von Lenz muss die Hauptfigur deshalb beim Eintritt in den Wald ihren Pullover überziehen (Lenz 1987, 136). Überhaupt ist das Klima der Böhmerwaldregion extrem: "Oft geht ein Wind, / aus dem Böhmischen her, / und der Winter ist lang, / und der Sommer ist schwer / vom Grün und vom Gold, / das wipfelab rollt" (Schreiber 2007, 235), lautet eine Strophe im Gedicht Der Böhmische Wald von Georg Britting (1891-1964). Kalte und raue Winde, trockene, heiße Sommer sowie schneereiche, stürmische Winter machen das Leben dort beschwerlich. Stifter hat solch einen Schneesturm, der den Wald in ein "weißes Ungeheuer" (Stifter 2005b, 1543) verwandelt, in seiner Geschichte Aus dem bairischen Walde beschrieben.
Das herbe Wetter schärft die Wahrnehmung der ohnehin schon von Kontrasten geprägten Landschaft: der Wald zeigt sich als "schwarze Gewalt" (Schreiber 2007, 235), "düsterprächtiger Waldesbogen" (Stifter 2005b, 259), "kilometerweit schwarzgrün" (Lenz 1997, 40), "und drüber / wölbt sich ein Himmel, blank und blau" (Rilke 1955, 68). Rainer Maria Rilke (1875-1926) war von den Farben dieser Landschaft angezogen und mutmaßt in seinem Gedicht Gott war guter Laune: "da ward / Böhmen, reich an tausend Reizen. // Wie erstarrtes Licht liegt der Weizen / zwischen Bergen, waldbehaart" (ebd., 22f.). Der dunkle Wald macht die Umgebung deutlich: die "Nebelmilch zwischen den Böhmhängen" (Lenz 1997, 46), die "gelbsandigen" Straßen und die Wege, die "wie mit grauem Salz belegt" (ebd., 40) sind, den Felsstein der "im Bruch glimmerig glitzert" und das "gelbbraun gebleichte Gras" (Lenz 1987, 135) am Waldrand; "das weiße Gerippe eines umgestürzten Baumes" oder "einzelne Granitkugeln liegen, wie bleiche Schädel" auf "tief schwarzer Erde" (Stifter 2005b, 260).

Die großflächigen kräftigen Farben wirken beruhigend; dazu kommen die Stille der "schweigenden Wälder" (Schreiber 2007, 155) und die Menschenleere. "Man kann hier tagelang weilen und sinnen und kein Laut stört die durch das Gemüth sinkenden Gedanken, als etwa der Fall einer Tannenfrucht oder der Schrei eines Geiers" (Stifter 2005b, 261), schreibt Stifter. Steigt man auf einen der mitunter beachtlichen Gipfel des Böhmerwaldes, fühlt man sich, so Johanna Baronin Herzogenberg (1921-2012), wie "schwebend über den Wäldern" (Herzogenberg 1980, 244). Hier erst bemerkt man die Größe des Waldes, sieht wie Stifters Hochwald-Kinder "Wald und lauter Wald" und "bis zur feinsten Linie des Horizontes" nichts "als den selben Schmelz der Forste, über Hügel und Täler gebreitet" - als wäre das Land "getaucht in jenen sanftblauen Waldhauch" (Stifter 2005b, 288 u. 300). Das Blätterdach wirkt im Inneren für Stifter wie ein "blauer Waldhimmel" (ebd., 338) - von oben betrachtet dagegen sehen die waldbedeckten Hügel für Lenz aus wie lagernde Tiere, "Wisentrücken" (Lenz 1997, 46), die sich "aneinanderschmiegten, ineinander übergingen" (Lenz 1987, 138). Viele Schriftsteller erinnern sie an "ein schwarzes Meer hoher Tannenwogen" (Reil 1985, 8), ein "Fichtenwipfelmeer" (Lenz 1987, 138) mit "grünen Wellen" und "schwarzen Tiefen" (Eugen Roth, zit. nach Schreiber 2007, 215). Auch die Geräusche sind im Wald gedämpft wie unter Wasser, man hört nur das beständige "ruhige Sausen in den Nadeln" (Stifter 1994, 29) und die Quellen "rauschen, und murmeln, und erzählen" (ebd., 41). Ingeborg Bachmann (1926-1973) nennt ein Gedicht sogar Böhmen liegt am Meer, wobei sie in das Natur- und Sehnsuchtsbild auch die Grenz- und Sprachkonflikte legt, welche diese Region seit je bestimmen: "Grenzt hier ein Wort an mich, so laß ich's grenzen. / Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren / wieder. / Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land." (Bachmann 1993, Bd. 1, 167)

Mit dem aufkommenden Nationalismus im 19. Jh. wurden die durchlässigen Grenzen zwischen Deutschland, Österreich und der Tschechischen Republik zu rigorosen Trennlinien zwischen Sprachen und Ethnien. Der Wald wurde politisiert und mit der Eigenart eines Volkes gleichgesetzt. Hitlers Einmarsch in die Sudetengebiete und sein Programm der Germanisierung beantwortete man nach Kriegsende von tschechischer Seite mit der Vertreibung und Aussiedlung der deutschen Bevölkerung. Der Eiserne Vorhang schließlich brachte die absolute Trennung der Staaten. Norbert Schreiber, Herausgeber der Anthologie Böhmerwald, beobachtete, wie sich am historisch wichtigen Bahnhof von Bayerisch Eisenstein "Kapitalismus und Kommunismus unmittelbar gegenüberstehend ins gefährliche Auge blickten und das Gebäude zerteilten. Grashalme und Disteln wucherten die Schienenwege zu" (Schreiber 2007, 195). Auch wenn die Grenzen nicht sichtbar waren - sie waren allen präsent, denn ein versehentliches Überschreiten konnte schlimme Folgen haben. Lenz' Hauptfigur sieht auf seinen Wanderungen immer wieder einen zur Vorsicht mahnenden "grauhölzernen Wachturm" (Lenz 1997, 24).
Nationalitätenkonflikte und Rückständigkeit der Region zwangen ab dem 19 Jh. viele Bewohner dazu, den Böhmerwald zu verlassen. Die Auswanderer nahmen ein verinnerlichtes nostalgisches Bild der "Waldheimat" mit: "Es war im Böhmerwald, wo meine Wiege stand, / Im schönen, grünen Böhmerwald / Schönen, grünen Wald" (Schreiber 2007, 22), lautet der Refrain von Andreas Hartauers (1839-1915) berühmtem Lied. Böhmerwaldliteratur ist Exilliteratur, meint Ivo Kares (vgl. ebd., 69ff.); sie verklärt den Wald und das ländliche Leben der Dorfbewohner im Einklang mit Gott und Natur. Die Autoren haben eine besondere Bindung an den Wald, sind dort geboren (Stifter), aufgewachsen (Karel Klostermann) oder bereisen ihn regelmäßig (Lenz), sodass der tschechische Autor Richard Weiner (1884-1937) in seinem Gedicht Doma feststellen kann: "Ich sehe die Kette des Böhmerwaldes, die dich an dich selbst kettet ..." (ebd., 73).
Seit der Antike wurde der Böhmerwald in der Literatur erwähnt. Die Darstellungen versammeln einerseits die immer gleichen Charakteristika des Waldes wie geologische Beschaffenheit, vorherrschende Farben, besonderes Klima oder Stille und Menschenarmut der Gegend; sie reflektieren andererseits den Bedeutungswandel, den der Wald aufgrund von gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen, kulturellen oder ökologischen Entwicklungen erfahren hat. Eine mythische Wahrnehmung des Böhmerwaldes als dämonische, von wilden Tieren, Räubern, Zauberwesen und sogar dem Teufel bewohnte Außenwelt, überliefert das reiche Sagen- und Märchengut der Region. Weder die Antike noch das Mittelalter empfanden den Böhmerwald als schön - für den römischen Geschichtsschreiber Tacitus war er sogar "widerwärtig" (Tacitus 2007, 9). Schön war nur die kultivierte Landschaft - Österreichs erster namentlich bekannter Dichter, der aus dem oberen Mühlviertel stammende Dietmar von Aist, siedelt den locusamoenus deshalb vor dem Wald an (vgl. Müller 1993, 75ff.). Der wilde Wald wurde dagegen zur Stätte der Weltflucht, Selbstfindung und Prüfung - ideal für Einsiedler oder Helden auf Aventiurensuche.

Zur eigentlichen literarischen Landschaft wurde der Böhmerwald erst ab dem 19. Jh. Das Ursprüngliche, Wilde, Dunkle, Geheimnisvolle und historisch Alte wurde in der Romantik mit der Distanz der nicht in der Natur arbeitenden Schichte Adeliger und Bürger als ästhetisch schön empfunden oder weckte erhabene Gefühle. Märchenhafter Wald, sagenumwobene Ruinen, tiefe Schluchten oder stille Orte der Einkehr wurden zu Motiven in der Literatur. Man bediente sich der alten Bilder - Friedrich Schiller lässt seine Räuber "in den böhmischen Wäldern" hausen (Schiller 1992, 27); in Stifters Witiko (1867) ist der Wald Ort der Aventiure und Herrschaftsgründung; in Granit Schutzort vor der Pest; im Hochwald vor den Gefahren des 30-jährigen Krieges. Die Natur wird als "Garten Gottes" (Stifter 2005b, 289f.) empfunden, in  Eduard Mörikes (1804-1875) Erzählung Mozart auf der Reise nach Prag (1856) fühlt sich der Musiker im Böhmerwald sogar "wie in einer Kirche" (Mörike 1952, 10).
Man begann Reisen in den Böhmerwald zu unternehmen, um die "unwirthbare Wildniß, zusammengesetzt aus Fels, Wald und Sumpf", das "deutsche Sibirien, bewohnt von reißenden Thieren und halbwilden Menschen" (Schreiber 2007, 30f.), zu erkunden. Johann Anton Friedrich Reil (1773-1843) empfiehlt eine Reise entlang der österreichisch-böhmischen Grenze (Reil 1985, 58). Bernhard Grueber (1807-1882) und Adalbert Müller (1802-1879) fühlen sich in Der bayrische Wald (1846) angesichts der "runden und weichen Formen an die Gebirge Italiens und Griechenlands" erinnert und sind erstaunt, dass nicht "Tausende von Naturfreunden zuwallen", um "all die reizvollen Scenerien und großartigen Naturschauspiele, welche der Böhmerwald in seinem Inneren birgt" (Schreiber 2007, 29ff.), zu entdecken.
Die Randgebiete des Böhmerwaldes wurden im 19. Jh. zum Erholungsziel für Touristen - im bayrischen Teil lagen Badeorte, die etwa Stifter regelmäßig besuchte. Im 20. Jh. zeigt sich "diese abseitige Gegend immer weniger 'außer der Welt liegend'" (Lenz 1997, 11), findet Hermann Lenz - "der Staat beutet den Wald aus, durchpflügt ihn mit Forststraßen, die zum Glück meistens sandig sind, nicht asphaltiert", und der "waldige Leib" des Dreisesselbergs zeigt "eine lange Narbe: die Skiabfahrten mit dem Skilift" (ebd., 37f.). Herbert Pöhnl (geb. 1948) beschreibt in Hinterkirchreuth ironisch die neue Tourismuskultur, in der eine "Waldwärts-GmbH" den Wald in einen Tourismuspark mit "Fantasywald", "Sommer-Eisstockbahn" und "Kneippstrecke" (Pöhnl 1993, 138) verwandelt. Waldland, wo liegst du? fragt Bernhard Setzwein (geb. 1960) und macht sich auf die Suche nach dem einsamen Waldland, das immer weiter nach "hinten" verdrängt wurde - "das Waldland, von dem wir immer gehofft hatten, noch ein Stückerl weiter hinten, da fängt es dann wirklich an" (Setzwein 1999, 45).

Katharina Pektor

 

Bachmann, Ingeborg: Werke. Hg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. München, Zürich 1993. - Deutsche Gedichte des Mittelalters. Ausgew., übers. u. erläutert von Ulrich Müller, in Zusammenarbeit mit Gerlinde Weiss. Stuttgart 1993. - Herzogenberg, Johanna Baronin: Zwischen Donau und Moldau. München 1980. - Lenz, Hermann: Der Wanderer. Frankfurt/Main 1987. - Ders.: Feriengäste. Erzählungen. Regensburg 1997. - Maidl, Václav: Aus dem Böhmerwald. Deutschsprachige Erzählungen. Passau 1999. - Mörike, Eduard: Mozart auf der Reise nach Prag. Berlin 1952. - Reil, Johann Anton Friedrich: Der Wanderer im Waldviertel. Wien 1985. - Rilke, Rainer Maria: Erste Gedichte (= Ders.: Sämtliche Werke. Hg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn. Bd. 1). Wiesbaden 1955. - Pöhnl, Herbert: Hinterkirchreuth. In: Hubert Ettl (Hg.): Bayrischer Wald. Viechtach 1993, 132-141. - Schiller, Friedrich: Die Räuber. Stuttgart 1992. - Schreiber, Norbert (Hg.): Böhmerwald. Klagenfurt 2007. - Setzwein, Bernhard: Waldland, wo liegst du? In: Bruno Mooser (Hg.): Waldland. Poetische Streifzüge durch den Bayrischen Wald. Viechtach 1999, 42-45. - Stifter, Adalbert: Granit. In: Ders.: Bunte Steine. Stuttgart 1994, 19-56 (= Stifter 1994). - Ders.: Witiko. München 2005 (= Stifter 2005a). - Ders.: Sämtliche Erzählungen nach den Erstdrucken. München 2005 (= Stifter 2005b). - Tacitus: Germania. Stuttgart 2007.

Beer, Karl: Der Böhmerwald und Bayrische Wald. Bielefeld und Leipzig 1925. - Pfligersdorffer, Georg: Der Böhmerwald in Schilderungen der Stifterzeit. Linz 1977. - Sonnleitner, Johann: Deutscher Wald und Böhmisches Dorf. In: H. Stefan Kaszynski und Slawomir Piontek (Hg.): Die Habsburgischen Landschaften in der österreichischen Literatur. Pozmán 1995. - Strohmeier, Gerhard: Schöpfung, Verklärung, Distanznahme. Zur Wahrnehmung von Natur und Landschaft an der Grenze. In: Andrea Komlosy u. a. (Hg.): Kulturen an der Grenze. Wien 1995, 17-34.