Reinhard Kaiser-Mühlecker wuchs auf dem elterlichen Hof in Eberstallzell auf. Er studierte in Wien Landwirtschaft, Geschichte und Internationale Entwicklung und lebt heute als freier Autor in Stockholm. Für seinen Debütroman Der lange Gang über die Stationen (2008), in dem ein Bauernschicksal aus den 1950er-Jahren erzählt wird, erhielt er noch vor Erscheinen des Buches den Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung. Vor einem entfernt bäuerlichen Hintergrund ist das Buch Magdalenaberg (2009) angesiedelt. Die weitläufigen Wellen und stoischen Rhythmen des Voralpenlandes (ein realer Magdalenaberg findet sich in der von Kirchdorf) geben den Erzählduktus vor. Die Hauptfigur des Buches begibt sich nach Hallstatt, um dort eine Studie über den Musikinstrumentenbau zu schreiben, die jedoch niemals fertig, ja nicht einmal recht begonnen wird. Die Erbschaft eines Onkels, die Joseph aus heiterem Himmel zugefallen ist, ermöglicht ihm ein solches Leben. Insgesamt ist in dem Buch ein erkennbarer Einfluss von Thomas Bernhard merkbar. Oberösterreich, die Landschaft und die Mentalität der Leute werden hier gleichsam überregional wirksam. Eine Geste, in der sich dies dokumentiert, ist das "in die Luft reden" der Leute. Sowohl sein Vater in Pettenbach als auch der Erzähler sagen gerade damit das Entscheidende.
Im Zentrum des 600 Seiten starken Romans Roter Flieder (2012) steht die oberösterreichische Bauernfamilie Goldberger, deren Schicksal Kaiser-Mühlecker über drei Generationen hinweg verfolgt. Ferdinand Goldberger hat als NS-Ortsgruppenführer in seinem Innviertler Heimatort ein derart brutales Regime geführt, dass die Bevölkerung ihn lynchen will. Als Fluchtburg bietet ihm die Partei daraufhin ein Ausweichquartier in einem neuen Ort an. Im Buch heißt dieser Ort Rosental, der Magdalenaberg liegt in der Nähe. Bald hat es den Anschein, als wären die Goldberger hier ewig ansässig. Das liegt auch an der Art und Weise, in der Kaiser-Mühlecker die Geschichte der Familie erzählt. Eine spezifische Art von Sprachlosigkeit - in der Gegend selbst nennt man es ‚Mundfaulheit‘ - liegt über den Personen. Ein umso stärkeres Gewicht kommt dort, wo niemand ein Wort zu viel spricht, den Faktizitäten in ihren gleichsam ewigen Abläufen zu.
Kaiser-Mühlecker fasst die sanfte Wucht des Faktischen in erzählerische Archetypen. In der dritten Generation der Familie treffen wir unter den beiden Söhnen auf eine abgemilderte Variante von Kain und Abel. Während der eine Sohn, Thomas, vom Vater zu früh zum Erben bestimmt wird, kommt dem anderen, Paul, am Hof nur eine periphere Rolle zu. Paul geht als Prediger nach Bolivien, wo sich seine Spur langsam verliert. Im Roman Schwarzer Flieder (2014) wird die oberösterreichische Familiensaga bis in die Jetztzeit weitergeführt. Pauls Sohn, von dem niemand wusste, dass er überhaupt existiert, taucht eines Tages am Hof auf. Vom kinderlosen Thomas und seiner Frau Sabine wird der Bub, der der Familientradition gemäß Ferdinand heißt, gerne aufgenommen. Die Wirtschaft indes will er nicht übernehmen. Stattdessen geht er nach Wien, studiert dort Landwirtschaft und verdingt sich im Ministerium.
Ferdinands Lebensweg ist von der Geschichte der Familie und dem Fluch, der vermeintlich auf ihr lastet, vorgezeichnet. Seine Verlobte Susanne begeht Selbstmord. Nach einem kurzen Intermezzo am Hof nimmt Ferdinand den Weg seines Vaters und folgt dessen Spuren in Bolivien. Aus der Heimat erfährt er eines Tages, dass Thomas seinen von ihm als Hoferben vorgesehenen Neffen Leonard in einem Streit erschlagen hat und im Gefängnis sitzt. An den Magdalenaberg zurückgekehrt, presst Ferdinand dem Verurteilten eine Vereinbarung ab. Er übernimmt den Hof, verlangt aber von Thomas, dass er das Anwesen auch nach Abbüßung der Haftstrafe nie wieder betritt.
Gleich nach Unterzeichnung des Kontraktes, der gleichsam mit dem gesammelten Blut der Familie geschrieben ist, beginnt Ferdinand, die Wirtschaft aufzulösen. Er fährt von Hof zu Hof und von Bauer zu Bauer und kündigt mit sofortiger Wirkung alle Pachtverträge. Andere Teile des Gutes werden verkauft, bis nur noch der ursprüngliche Kern der Flächen übrig ist. Dort betreibt Ferdinand, eher als Hobby, landwirtschaftliche Anbauversuche, über die er penibel Buch führt. Am Ende des Romans taucht am Horizont der Geschichte eine letzte Hoffnung auf. Die Tochter seines ehemaligen Chefs im Ministerium, eine junge Frau namens Judith, nähert sich Ferdinand so weit an, dass man schon vermeint, die Eheglocken läuten zu hören. Kaiser-Mühlecker indes, der die Spannung hier auf einen Höhepunkt treibt, lässt ein solches Ende nicht zu. Mit einer jähen Wendung fällt die Familie Goldberger auf sich und ihre eigene Geschichte zurück.
Kaiser-Mühlecker erhielt für sein Werk bereits zahlreiche Auszeichnungen (u. a. Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2007, Hermann Lenz-Stipendium 2008, Österreichisches Staatsstipendium für Literatur 2008, Buch-Preis der Arbeiterkammer Linz 2009, Stipendium des Landes Niedersachsen 2011, Kunstpreis Berlin Sparte Literatur 201, Outstandig Artist Award für Literatur 2013, Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2014, Adalbert-Stifter-Stipendium 2014).
Klaus Kastberger
Der lange Gang über die Stationen. Hamburg 2008. - Magdalenaberg. Hamburg 2009. - Wiedersehen in Fiumicino. Hamburg 2011. - Die Therapie. Ein Stück. Hamburg 2011. - Roter Flieder. Hamburg 2012. - Schwarzer Flieder. Hamburg 2014. - Zeichnungen. Drei Erzählungen. Frankfurt/M. 2015. - Fremde Seele, dunkler Wald. Frankfurt/M. 2016.
Landerl, Peter: Reinhard Kaiser-Mühlecker: Der lange Gang über die Stationen. In: Buchmagazin des Literaturhaus Wien, 29.3.2011. - Ders.: Reinhard Kaiser-Mühlecker: Wiedersehen in Fiumicino. In: Buchmagazin des Literaturhaus Wien, 30.5.2011. - Oberreither, Thomas: Reinhard Kaiser-Mühlecker: Roter Flieder. In: Buchmagazin des Literaturhaus Wien, 12.3.2013. - Schmitz, Michaela: Reinhard Kaiser-Mühlecker: Magdalenaberg. In: Buchmagazin des Literaturhaus Wien, 21.9.2009. - Wróblewska, Barbara: Reinhard Kaiser-Mühlecker - ein Virtuos der respektvollen Distanz. In: Joanna Drynda (Hg.): Neue Stimmen aus Österreich. 11 Einblicke in die Literatur der Jahrtausendwende. Frankfurt/M. 2013, 121-130.